Menschen mit Asperger-Syndrom nehmen Dinge anders wahr. Wie muss man sich das vorstellen?
Üblicherweise orientieren sich schon Säuglinge intuitiv an Gesichtern und Bewegung, später nehmen sich Kinder ein Beispiel am Handeln anderer. Bei Menschen mit Asperger ist dies nicht der Fall. Sie sind überfordert mit den Eindrücken der Umwelt, müssen mühsam lernen zu verstehen und zu reagieren. Zudem empfinden sie gewisse Reize wie Gerüche oder Geräusche oft als unangenehm. Aber sie können sich hervorragend auf Details konzentrieren, haben oft ein fotografisches Gedächtnis und einen grossen Gerechtigkeitssinn. Ob und wie früh sie auffällig werden, hängt von der Ausprägung ab und von den Fähigkeiten, die sie entwickeln, um in der Welt zu bestehen.
Weshalb dauert es oft so lange, bis betroffene Erwachsene eine Diagnose erhalten?
Erwachsenenpsychiater haben sich lange nicht dafür zuständig gefühlt und Asperger als Kindheitsphänomen betrachtet. Meist holen sich erwachsene Betroffene erst dann Hilfe, wenn sie in eine Krise geraten. Verfügen die aufgesuchten Fachleute dann nicht über das nötige Wissen, kommt es auch nicht zur Diagnose.
Eine Diagnose ist bei Mädchen offenbar schwieriger.
Buben und Männer sind häufiger betroffen als Mädchen und Frauen. Letztere sind meist mehr um Anpassung bemüht und können schon als Kinder besser imitieren. Deshalb äussert sich bei ihnen das Asperger- Syndrom oft versteckter, sodass sie noch mehr als Buben Gefahr laufen, unentdeckt zu bleiben.
Viele Betroffene und Angehörige berichten von Vorurteilen, mit denen sie nach der Diagnose konfrontiert sind.
Ich habe eher den Eindruck, Asperger-Betroffene werden in unserer Gesellschaft als die Genialen betrachtet. Manche erhalten Unterstützung von Fachpersonen an ihrer Ausbildungs- und Arbeitsstelle. Da ich vor allem Abklärungen mache, erlebe ich meist nicht mehr, wie es weitergeht
Wer kommt zu Ihnen in die Praxis?
Hauptsächlich Erwachsene – viele sind in einer Partnerschaft, haben Kinder und eine Arbeit, die sie oft sehr gut erledigen. Schweregrad und Muster der Betroffenheit sind sehr unterschiedlich. Die meisten aber haben sich über die Jahre gut angepasst – sonst wären sie schon früher aufgefallen. Sie haben gelernt, andere Leute anzuschauen oder sich zurückzuziehen, bevor sie von den vielen Interaktionen völlig erschöpft sind.
Was sind Anzeichen dafür, dass der Lebenspartner Asperger hat?
Es sind häufiger die Ehefrauen, die sich fragen, ob ihr Partner betroffen sein könnte. Für die Diagnose braucht es ein Gespräch. Da wird etwa gefragt, wie der Erwachsene als Kind gewesen sei, wie er gespielt habe, ob er Freundschaften geschlossen habe oder ein Einzelgänger gewesen sei. Gibt es im Alltag Kontakt zu anderen Menschen – in der Familie, an der Arbeitsstelle? Wie versteht er, was andere meinen und wollen? Was interessiert ihn? Wie sehr erschöpft ihn Soziales? Das Nichtmitteilen ist bei Asperger-Betroffenen ein Nichtkönnen.
Wie gelingt es einem Paar, trotz allem zusammenzubleiben?
Beide sollten sich klar sein über die Besonderheit und sie verstehen. Es gibt Paare, die sich über die Jahre gut arrangiert haben. Betroffene beider Geschlechter sind oft sehr loyal, ehrlich und verlässlich.
Hilft eine Diagnose?
Sie kann hilfreich sein, notwendig ist sie nicht. Das Problem besteht darin, dass vor allem Frauen betroffener Partner den Grund für die Schwierigkeiten oft bei sich suchen, sich verantwortlich fühlen und sich dann noch mehr um das Gelingen der Beziehung bemühen. Diesen Mechanismus gilt es zu unterbrechen. Der nicht betroffene Partner muss verstehen, was er erwarten kann, was zu akzeptieren ist, was er aber auch klarer einfordern muss. Dazu gehört auch, dass beide die Perspektive des anderen im Blick haben, seine Bedürfnisse akzeptieren und gegenseitig ihre Erwartungen anpassen.