Generell ist die Welt unruhiger als auch schon, Gesellschaften sind polarisierter, Demokratie und Rechtsstaat vielerorts unter Druck. Spürt man das auch, wenn man international auf höchster Ebene unterwegs ist?
Sehr. In vielen Ländern ist das zwar ein wichtigeres Thema als bei uns, aber wir haben grosses Interesse daran, dass es den anderen gut geht – wenn unser internationales Umfeld stabil ist, dann geht es auch uns gut. Ich finde es im Übrigen gar nicht so negativ, dass uns diese Fragen beschäftigen. Vor zehn Jahren waren Stabilität und internationale Kooperation eine Selbstverständlichkeit, deshalb interessierte sich kaum jemand dafür. Heute ist beides infrage gestellt, und genau das lässt viele den Wert dieser Zusammenarbeit erst wirklich erkennen. Was am Ende dabei herauskommt, ist natürlich eine andere Frage. Klar ist, dass die Abschottungstendenzen, die sich heute teilweise auch in Europa zeigen, für uns Gift sind. Das betone ich auch immer bei unseren Nachbarn.
Kann die Schweiz etwas tun, damit sich alles in unserem Sinn entwickelt?
Wir haben mit unserem humanitären, neutralen Hintergrund eine besondere Position. Bei Gesprächen im Vatikan habe ich kürzlich erwähnt, dass es auch bei uns eine Diskussion über den Uno-Migrationspakt gibt. Die Reaktion war eindeutig: Die Haltung der Schweiz in dieser Frage ist besonders relevant.
Es wäre also ein fatales Signal, wenn das Parlament den Pakt ablehnen würde?
Es hätte negative Auswirkungen auf den Ruf der Schweiz, die wesentlich an der Erarbeitung der Vereinbarung für eine globale Migrationspolitik beteiligt war. Eine solche entspricht unseren Zielen. Dass wir darüber diskutieren, finde ich aber vollkommen legitim. Schliesslich leben wir in einer Demokratie.
Diese Themen wären eigentlich ideal für die Sozialdemokraten, dennoch verlieren sie fast überall Wähleranteile. Weshalb tun sie sich so schwer?
Sie verlieren nicht überall. Bei Wahlen geht es oft weniger um einzelne Themen, als um die Frage, wer welches grosse Projekt für die Gesellschaft hat, um die Frage, was wir für die nächsten Jahre wollen. Derzeit spüren wir einen starken Rückzug auf das Nationale, auf sich selbst, die eigene Familie. Das hat wohl auch mit den zahlreichen rasanten Veränderungen in den vergangenen Jahren zu tun. Bei vielen hat das zu einer grossen Verunsicherung geführt – da ist Rückzug als erste Reaktion durchaus verständlich. Als zweite Reaktion aber müssen wir entscheiden, wie wir mit diesen Veränderungen umgehen. Denn die verschwinden nicht, wenn wir den Kopf in den Sand stecken, die bleiben. Ganz zentral ist, dass die Chancengleichheit für alle möglichst gross bleibt, nur so können wir den grossen Zusammenhalt im Land bewahren.