Wie läuft denn so eine Rekrutierung ab?
Das fängt zunächst ganz harmlos an: Irgendein Gleichaltriger kommt und fragt, ob man mal seine Brüder kennenlernen will. Warum nicht? Man geht also mit und erlebt fröhliche, warmherzige Menschen, die einen anlächeln und mit allem, was sie tun, signalisieren: Schön, dass du da bist. Inhaltlich wird da nicht diskutiert, stattdessen wird Fussball gespielt und gemeinsam gekocht. Dann gibt es dort vielleicht noch eine charismatische Persönlichkeit, die rasch in die Position eines Ersatzvaters rutschen kann. Wenn man selbst gerade in einer Krise steckt, was im Jugendalter schnell mal vorkommen kann, ist das alles äusserst attraktiv. Auch wenn man mit gewissen Ungerechtigkeiten in der Welt hadert. Und die Rekrutierer haben ein Auge für Menschen, die gerade in einer verletzlichen Situation stecken. Sie suchen nach dem Bruch und docken dort emotional an.
Das heisst, ein stabiles soziales Umfeld und ein intaktes Elternhaus bieten einen gewissen Schutz?
Wenn die Grundbedürfnisse des Jugendlichen erfüllt sind, er sich geborgen fühlt, sich entwickeln kann, Empathie für andere zeigt, wenn er eine reflektierte, gefestigte Persönlichkeit hat, sich und andere also kritisch hinterfragen kann, dann ist er kaum gefährdet. Es hilft auch, wenn Eltern Grenzen setzen. In der rechten Szene erleben wir oft Eltern, die sich mehr wie Kumpels ihrer Kinder geben, da fehlt eine Ebene der Auseinandersetzung, die wichtig wäre. Oft haben wir hier Klienten, die uns am Ende unserer Arbeit sagen, sie hätten gar nicht gemerkt, wie sehr sie manipuliert worden seien. Da steht zum Beispiel ein 17-jähriger Syrien-Rückkehrer hier im Büro, Vater links, Mutter rechts, und beide wollen wissen, warum um alles in der Welt er das gemacht hat? Doch er guckt nur verschämt auf den Boden und hat keine Antwort. Genau das arbeiten wir dann mit ihm heraus: Welche Probleme, Krisen, emotionale Bedürfnisse waren da, die das Angebot der Salafisten so verführerisch gemacht haben? Und wie lassen sie sich anders angehen?
Das ist der zentrale Punkt?
Vor der Radikalisierung gibt es immer einen Schmerz. Den müssen wir finden, damit der Jugendliche aufarbeiten kann, was in seinem Leben passiert ist, damit er an diesen Punkt kommen konnte. Passiert das nicht, besteht die Gefahr der Reradikalisierung, weil das eigentliche Thema nicht angegangen worden ist. Ich hatte mal einen Fall, da hat sich ein Jugendlicher von den Salafisten gelöst, nur um dann in die Partyszene hineinzurutschen, mit Drogen und allem Drum und Dran. Aber auch Sucht ist nur eine Ablenkungsstrategie, so wie es vorher Extremismus und Gewalt waren. Es ist eine Flucht vor der Realität. Für mich als Betreuer sind deshalb die Lebensgeschichten ganz zentral, die schaue ich mir immer sehr genau an.
Und was entdecken Sie da so?
In einem Fall war der Vater bei der Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands) und der AfD, es kam zu enormen innerfamiliären Konflikten. Die Tochter ging dann aus Protest zu den Salafisten, also nicht, weil sie die so toll fand, sondern weil sie ihrem Vater eins auswischen wollte. Hier muss man also den Konflikt in der Familie bearbeiten, wenn man irgendwie weiterkommen will. Generell gilt: Jeder Radikalisierungsfall ist anders, deshalb muss man auch bei der Deradikalisierung immer anders vorgehen.