Die Kleider gehörten Andreas. Er zog sie heimlich an, weil er schon immer das Gefühl hatte, im falschen Körper geboren zu sein. Als Kind vergriff er sich an den Kleidern seiner Mutter. Als der Vater ihn dabei ertappte, bestrafte er Andreas und drohte mit dem Kinderheim.
Nelly von Aesch (54) ist heute mit Andrea (50) verheiratet, denn in den vergangenen 16 Jahren ist aus Andreas Schritt für Schritt eine Frau geworden.
«Muss ich jetzt lesbisch werden?»
«Nur gerade jede fünfte Ehe bleibt nach einem Transgender-Outing bestehen. Ich habe ein wahnsinniges Glück», sagt Andrea. Damals – 2001, als Nelly die Kleider entdeckt hatte – war Andreas Sorge gross, sie zu verlieren. «Nachdem ich sein Geheimnis gelüftet hatte, fragte ich mich: Muss ich jetzt lesbisch werden?», erinnert sich die Verkäuferin. Inzwischen denke sie längst nicht mehr in diesen Kategorien. Zumal Sex in ihrer Beziehung noch nie wirklich wichtig gewesen sei. «Wir haben uns gern und sind füreinander da. Das ist die Hauptsache.» Zudem sehe sie, wie gut es Andreas als Andrea gehe.
Lange Zeit existierte Andrea für Nelly nur in den gemeinsamen vier Wänden in Biezwil SO, einer 340-Seelen-Gemeinde im Mittelland. Und auch das nur, wenn nicht gerade eines der vier Kinder aus Nellys früherer Ehe da war. Damals fürchteten sich beide vor den Reaktionen der Familie, der Nachbarn und überhaupt der Gesellschaft.
Andreas war ein richtiger Macho
Für seine Mitmenschen war Andreas stets ein richtiger Mann: Er hatte eine tiefe Stimme, kräftige Oberarme und raspelkurze Haare. Auf Fotos von früher sieht man ihn oft betont raumfüllend und breitbeinig dasitzen. Beruflich war er als Carchauffeur tätig. Und auch sein Hobby, der Modellbau, war äusserst unverdächtig: «Ich hatte immer eine riesige Angst, dass mich jemand entlarven könnte», sagt Andrea, die mit einer hohen Stimme spricht, die leicht heiser klingt.