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Transfrau Andrea lässt in ihre Seele blicken

Nelly von Aesch musste sich in den vergangenen 16 Jahren schrittweise von ihrem Mann Andreas verabschieden. Aus Andreas ist Andrea geworden – und heute liebt Nelly eine Frau.

Text Andrea Freiermuth
Datum
Nelly küsst ihre Ehefrau Andrea genauso liebevoll wie damals, als diese noch Andreas hiess und wie ein Mann aussah.

Als Nelly fremde Damenkleider in der Garage fand, war sie gerade mal ein Jahr mit Andreas verheiratet. Sie war schockiert, stellte sich ihren Mann mit einer anderen Frau vor und wollte von ihm wissen, wem diese Kleider gehörten. Zur Rede gestellt, sackte Andreas förmlich in sich zusammen und sagte: «Jetzt weisst du es also.» Was er ihr dann aber erzählte, war nicht das, was Nelly erwartet hatte.

Wie ein «normales» Ehepaar: Im Jahr 2000 heirateten Andreas und Nelly mit allem, was dazugehört: Brautstrauss, Oldtimer und grosser Gästeschar.

Wie ein «normales» Ehepaar: Im Jahr 2000 heirateten Andreas und Nelly mit allem, was dazugehört: Brautstrauss, Oldtimer und grosser Gästeschar. (zvg)

Die Kleider gehörten Andreas. Er zog sie heimlich an, weil er schon immer das Gefühl hatte, im falschen Körper geboren zu sein. Als Kind vergriff er sich an den Kleidern seiner Mutter. Als der Vater ihn dabei ertappte, bestrafte er Andreas und drohte mit dem Kinderheim.

Nelly von Aesch (54) ist heute mit Andrea (50) verheiratet, denn in den vergangenen 16 Jahren ist aus Andreas Schritt für Schritt eine Frau geworden.

«Muss ich jetzt lesbisch werden?»

«Nur gerade jede fünfte Ehe bleibt nach einem Transgender-Outing bestehen. Ich habe ein wahnsinniges Glück», sagt Andrea. Damals – 2001, als Nelly die Kleider entdeckt hatte – war Andreas Sorge gross, sie zu verlieren. «Nachdem ich sein Geheimnis gelüftet hatte, fragte ich mich: Muss ich jetzt lesbisch werden?», erinnert sich die Verkäuferin. Inzwischen denke sie längst nicht mehr in diesen Kategorien. Zumal Sex in ihrer Beziehung noch nie wirklich wichtig gewesen sei. «Wir haben uns gern und sind füreinander da. Das ist die Hauptsache.» Zudem sehe sie, wie gut es Andreas als Andrea gehe.

Lange Zeit existierte Andrea für Nelly nur in den gemeinsamen vier Wänden in Biezwil SO, einer 340-Seelen-Gemeinde im Mittelland. Und auch das nur, wenn nicht gerade eines der vier Kinder aus Nellys früherer Ehe da war. Damals fürchteten sich beide vor den Reaktionen der Familie, der Nachbarn und überhaupt der Gesellschaft.

Andreas war ein richtiger Macho

Für seine Mitmenschen war Andreas stets ein richtiger Mann: Er hatte eine tiefe Stimme, kräftige Oberarme und raspelkurze Haare. Auf Fotos von früher sieht man ihn oft betont raumfüllend und breitbeinig dasitzen. Beruflich war er als Carchauffeur tätig. Und auch sein Hobby, der Modellbau, war äusserst unverdächtig: «Ich hatte immer eine riesige Angst, dass mich jemand entlarven könnte», sagt Andrea, die mit einer hohen Stimme spricht, die leicht heiser klingt.

Wie ein «richtiger» Mann: Andreas von Aesch legte Wert darauf, dass niemand in seine Seele blicken konnte – so auch während des Apéros am Tag seiner Hochzeit mit Nelly.

Wie ein «richtiger» Mann: Andreas von Aesch legte Wert darauf, dass niemand in seine Seele blicken konnte – so auch während des Apéros am Tag seiner Hochzeit mit Nelly. (zvg)

Im Frühling 2015 wagte sich Andreas erstmals als Andrea an ein Treffen von Transfrauen in Wangen BE und kam auf der Heimfahrt prompt in eine Polizeikontrolle: «Ich trug Perücke und war im Vergleich zu heute total schlecht geschminkt.» Der Polizist habe ihn dann aber wider Erwarten als Frau akzeptiert und sich absolut korrekt verhalten. «Das hat mir unglaublich viel Mut gemacht und sich wie ein Befreiungsschlag angefühlt.»

Seit eineinhalb Jahren nimmt Andreas weibliche Hormone und trainiert gemeinsam mit einer Logopädin seine Stimme. Im vergangenen Frühling weihte er seinen Chef ein und setzte sich zum ersten Mal als Andrea hinter das Steuer eines Reisecars. Und nach einem langwierigen administrativen Prozess erhielt Andreas Anfang Dezember 2017 neue Papiere und ist jetzt offiziell als Andrea anerkannt.

Eine weibliche Seele in einem männlichen Körper

Im Mai wird Andrea den letzten Schritt auf dem Weg zur Frau machen: Sie wird sich am Universitätsspital Zürich einer geschlechtsanpassenden Operation unterziehen: «Das interessiert die Leute, besonders Männer, immer am meisten: Ist das Teil noch da oder schon weg?», sagt Andrea und lacht.

Es stört sie nicht, wenn Fragen gestellt werden, im Gegenteil: «Es gibt so viel Unwissenheit über Transsexualität. Viele denken, da geht es hauptsächlich um Sex, mit Netzstrümpfen und Highheels.» Darum sei ihr der Begriff Transidentität eigentlich lieber. Das beschreibe viel besser, was Sache sei: «Ich habe eine weibliche Seele,die jahrelang in einem männlichen Körper wohnen musste.»

Nelly und Andrea zuhause.

Andrea und Nelly zuhause. Manchmal sehnt Nelly sich nach dem starken Mann, der Andrea mal war.

Auf die Frage, ob sie Andreas denn nie vermisse, sagt Nelly mit brechender Stimme: «Machmal sehne ich mich nach dem starken Mann, dem Beschützer und Liebhaber.» Aber sie habe mit Andrea auch viel gewonnen: «Sie ist viel zärtlicher und feinfühliger als Andreas und beteiligt sich auch mehr an der Hausarbeit, weil sie nicht Macho spielen muss.» Trotzdem ist Nelly heute nicht mit einem komplett anderen Menschen verheiratet: «Der Kern, das Herz, ist immer noch dasselbe – wie zum Glück auch der Humor.»

www.andrea-vonaesch.ch

www.transgender-network.ch

SRF Dok über Andrea und Nelly

Der «DOK»-Autor Béla Batthyany hat Andrea und Nelly ein Jahr lang begleitet. Entstanden ist ein feinfühliger Film, der zeigt, welche Herausforderungen Andreas auf dem Weg zu Andrea zu meistern hat: So ist die Kamera etwa bei der ersten Begegnung zwischen Andrea und ihrem Vater oder beim Coming-out gegenüber dem Chef dabei. Wider Erwarten darf man immer wieder mal lachen – nicht zuletzt dank Andreas ausgeprägtem Sinn für Humor.

«Das Geschlecht der Seele»: Donnerstag, 25. Januar, 20:05–21:05 Uhr, SRF 1

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