Ein Mensch ist entweder Frau oder Mann – so zumindest war es bis vor Kurzem in Stein gemeisselt. Doch dann kam Facebook und bot neben diesen beiden noch etwa 60 weitere Optionen für Geschlechtsidentität an, darunter etwa «androgyn», «genderqueer», «Two Spirit» oder «weder noch». Noch mehr Begriffe gibts bei den Romanescos – einer Zürcher Gruppe für Menschen jenseits des etablierten Geschlechtersystems. Ihre Mitglieder bezeichnen sich unter anderem als «genderblender», «inbetween», «postgender» oder «zwischenmensch».
«Die vielen Begriffe sind entstanden, weil diverse Leute an unterschiedlichen Orten versucht haben, ihr inneres Gefühl über sich möglichst genau in Worte zu fassen», sagt der Biologe und Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voss (38). «Diese Bezeichnungen sind nicht nur Spielerei, sondern ein wichtiger Teil der Selbstfindung.» Im deutschsprachigen und angelsächsischen Raum hat sich «non-binär»/«non-binary» als Oberbegriff etabliert. Er bedeutet, dass man sich nicht auf eines der klassischen Geschlechtermodelle Mann oder Frau festlegen möchte, sondern sich dazwischen oder ausserhalb sieht.
Wie viele Menschen sich in der Schweiz als non-binär definieren, ist unklar. Aber laut dem Transgender-Netzwerk Schweiz (TGNS) identifizieren sich rund 40 000 Menschen nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht. Für dieses innere Empfinden gibt es konkrete Grundlagen. «Die klare Zuordnung in Mann und Frau entspricht nicht der biologischen Realität», sagt Voss. Jeder Embryo habe zunächst das Potenzial, sich in jede geschlechtliche Richtung zu entwickeln. «So ergeben sich bezüglich der Geschlechtsorgane diverse biologische Zwischenmodelle, die weder typisch Mann noch typisch Frau sind.»
Laut Voss lassen sich etwa 20 bis 30 Prozent der Menschen biologisch nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zuordnen. Geschieht dies als Säugling und Kind dennoch, teils gar mit operativen Eingriffen, führt das für die Betroffenen fast immer zu grossem Leid. «Dass sich in der Öffentlichkeit die Vorstellung der Eindeutigkeit von Frau und Mann noch immer hält, hat auch damit zu tun, dass sich Biologen, Medizinerinnen und weitere Forschende lange dazu verpflichtet fühlten, die Dinge simpel und verständlich darzustellen», sagt der Professor für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg in Sachsen-Anhalt (D).
Im Mittelalter grössere Offenheit als heute
Voss verweist auch darauf, dass die Gesellschaft in früheren Zeiten offener war. «Bis Ende des 19. Jahrhunderts finden sich etwa im Preussischen Allgemeinen Landrecht und im Bayrischen Bürgerlichen Gesetzbuch Regelungen, die ein drittes Geschlecht berücksichtigen.»
Laut Christof Rolker, Historiker an der Universität Bamberg (D), berief sich die mittelalterliche Rechtssprechung im gesamten deutschsprachigen Raum auf das römische Recht. «Dort war zwar das juristische Geschlecht binär, doch dass menschliche Körper geschlechtlich vielfältiger waren, galt den vormodernen Juristen als selbstverständlich.» Im Kirchenrecht gab es gar Passagen wie diese: «Ob ein Hermaphrodit ein Testament bezeugen kann, hängt davon ab, welches Geschlecht in ihm überwiegt.»
Die Reduktion auf eindeutig Mann oder Frau kam laut Heinz-Jürgen Voss erst später mit dem Wahrheitsanspruch und den Klassifikationsbedürfnissen der modernen Wissenschaft und Medizin. «Sie waren überzeugt, dass sich aufgrund einzelner Merkmale das Geschlecht ganz eindeutig bestimmen lässt.»
Die gesellschaftliche Öffnung rund um Geschlechterfragen und sexuelle Orientierung in den letzten Jahren hat nun auch non-binäre Menschen ermutigt, vermehrt für sich und ihre Rechte einzustehen.