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Religion

Quo vadis, katholische Kirche?

Die Zahl der gläubigen Katholiken steigt zwar weltweit, doch die Kirche gerät immer wieder in die Negativschlagzeilen – und zunehmend unter Druck. Stimmen zur Lage der Glaubensgemeinschaft aus katholischer, reformierter und freidenkerischer Sicht.

Text Ralf Kaminski
Datum
Kirche in Bedrängnis

Der katholischen Kirche in der Schweiz laufen immer mehr Schäfchen davon. (Illustrationen: Stephan Schmitz)

«Ich bin immer noch Christin»

«Ich bin gemeinsam mit anderen Frauen im November 2018 aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil ich die Hoffnung verloren habe, dass sich je etwas in die richtige Richtung bewegen wird. Die Aussage von Papst Franziskus, dass Abtreibung vorsätzlicher Mord sei, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich habe aber schon länger mit mir gerungen, weil die Gleichstellung von Frauen für mich schon immer ein Kernthema war. Und im Grunde ist die Diskriminierung der Frau Teil des Geschäftsmodells dieser Kirche. Es gibt auch keinerlei Anzeichen, dass sich daran etwas ändern wird.

«Letztlich geht es schlicht um Macht, die die Herren in Rom nicht abgeben wollen», sagt Monika Stocker (71), ehemalige Zürcher Stadträtin der Grünen. (Bild: Sophie Stieger)

«Letztlich geht es schlicht um Macht, die die Herren in Rom nicht abgeben wollen», sagt Monika Stocker (71), ehemalige Zürcher Stadträtin der Grünen. (Bild: Sophie Stieger)

Die Herren in Rom stammen aus einer anderen Zeit und zeigen keinerlei Lernbereitschaft. Entsprechend festgefahren ist die Kirche in ihrer patriarchialen Haltung. Aber im 21. Jahrhundert geht das einfach nicht mehr. Junge Menschen können sich mit all dem überhaupt nicht identifizieren. Eigentlich wären Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung die Kernbotschaften der Kirche. Doch davon ist vor lauter Debatten um Herrschaft nichts mehr zu spüren. Letztlich geht es schlicht um Macht, die diese Herren nicht abgeben wollen.

Zwar bin ich nun nicht mehr katholisch, aber immer noch Christin. Und so geht es sicherlich einigen, die ausgetreten sind. Die vielen Konfessionslosen heute sind keine befreiende Entwicklung, sondern eher eine Notlösung. Viele sind weiterhin auf der Suche nach Sinn und Halt, können sich aber in den bestehenden Institutionen nicht wiederfinden.»

«Es besteht die Gefahr, dass die Botschaft der Kirche nicht mehr gehört wird», sagt Kurt Koch (69), ehemals Bischof von Basel, seit 2010 Kardinal in Rom.

«Es besteht die Gefahr, dass die Botschaft der Kirche nicht mehr gehört wird», sagt Kurt Koch (69), ehemals Bischof von Basel, seit 2010 Kardinal in Rom.

«Die christliche Perspektive ist weiter relevant»

«Die Lage für die Kirche ist je nach Kontinent unterschiedlich. In Europa und in der Schweiz befindet sich das Christentum insgesamt in keiner einfachen Situation. Anders als früher ist Religion kein so öffentliches Thema mehr; sie gilt als Privatsache. So, wie man heute die meisten Lebensbereiche individuell gestaltet, so hält man es auch mit dem Glauben. Zugleich ist man gegenüber Institutionen skeptischer geworden – wenn man aus dem Staat austreten könnte, würden das vermutlich viele tun. Natürlich bereiten mir die zahlreichen Kirchenaustritte Sorgen, aber im Vordergrund steht bei uns trotz allem die Seelsorge, nicht die ‹Zählsorge›.

Die Kirche muss sich angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen immer wieder neu positionieren, um ihre Kernbotschaft glaubwürdig verkünden zu können: Gott ist in unserem Leben gegenwärtig. Wenn sie das nicht tut, besteht die Gefahr, dass diese Botschaft nicht mehr gehört wird. Die Kirche sollte sich deshalb auch in aktuelle Debatten einbringen, ihre Position – etwa zu Migration, Armut, Terrorismus und Klimawandel – deutlich machen und zeigen, dass die christliche Perspektive weiterhin relevant ist.

Screenshot MM 8.4.2019

Dieser Artikel stammt aus dem Migros-Magazin vom 8. April 2019 (Nr. 15)

Daneben geht das Ringen um Lösungen in den anderen umstrittenen Fragen weiter. Im Zusammenhang mit den sexuellen Missbräuchen hoffe ich auf Folgendes: 1. Absolute Priorität der Opfer; auf sie muss man hören, ihnen muss man helfen. 2. Null Toleranz gegenüber den Tätern 3. Aktive Präventionsarbeit, um weitere Missbräuche zu verhindern. Allerdings erschwert die globale Präsenz der Kirche die Lösung solcher Probleme, weil die kulturellen Sensibilitäten so unterschiedlich sind. Und der Anspruch lautet stets, Antworten zu finden, die für alle gelten.

Die Leitung der Universalkirche ist natürlich mit vielen Spannungen verbunden. Ich sehe den Papst diesbezüglich wie einen Bergführer: Mal muss er vorausgehen und den Weg zeigen, ein anderes Mal geht er ganz hinten, um zu schauen, dass niemand zurückbleibt, und manchmal muss er in der Mitte bei allen sein. Eine schwierige Aufgabe, um die ihn niemand beneidet.»

Arnd Bünker (49) ist Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts in St. Gallen.

Arnd Bünker (49) ist Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts in St. Gallen.

Ein Wertezerfall ist nicht in Sicht

Die Religiosität in der Schweiz nimmt ab, die Kirchen leeren sich. Führt dies auch zu einem Wertezerfall? Theologe Arnd Bünker sagt, dass dafür keine Gefahr bestehe.

 

Sind Kirche und Religion heute noch relevant als Vermittler von Werten? 

Nicht mehr in dem Sinn, dass sie etwas vorgeben, woran man sich dann hält. Das ist vorbei, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Bis in die 1950er-Jahre gab es in der Schweiz ein relativ geschlossenes katholisches Milieu mit Werten, über die sich alle mehr oder weniger einig waren. Seither jedoch hat eine starke Pluralisierung stattgefunden, auch innerhalb der Kirche, was zu vielen Diskussionen führt. 

Werte lassen sich also auch ohne Religion und Kirche verankern?

Absolut. Die gesellschaftlich gelebten Werte im Raum der ehemaligen DDR zum Beispiel unterscheiden sich kaum von denen in katholischen oder reformierten Regionen – obwohl das Gebiet zu den religionslosesten der Welt zählt.

Welche anderen Instanzen vermitteln beständige Werte?

Medien, politische Parteien, vor allem aber das persönliche Umfeld: Eltern, Geschwister, Partner, Freunde. Sie sind für die individuelle Werteentwicklung entscheidend, sie leben Werte vor, mit ihnen gemeinsam erleben wir sie. Wenn die Kirchen bezüglich gesellschaftlicher Werte relevant bleiben wollen, müssen sie sich gut überlegen, wie sie ihre Positionen noch einbringen möchten, wie sie sich etwa zu bestimmten Abstimmungsvorlagen äussern wollen. Mein Eindruck ist, dass solche Stellungnahmen gut akzeptiert sind, solange sie nicht als Dekret oder einzige Wahrheit verkündet werden.

Welche heutigen Werte haben ihre Wurzeln im Christentum? 

Es ist gar nicht so leicht, dies verbindlich auf eine Religion zurückzuführen, weil schon die ersten Christen Elemente aus dem Judentum und anderen Kulturen aufgegriffen haben. Selbst die Grundgedanken der zehn Gebote fanden sich zum Beispiel schon früher in anderen Religionen. Was aber wirklich aus dem Christentum heraus in unserer Kultur Wurzeln geschlagen hat, ist die Einsicht, dass alle Menschen als Menschen Anerkennung finden.

Also gleichwertig behandelt werden sollten?

Letztlich ja. Dieses Ethos war wichtig in der Gründungsgeschichte des Christentums und strahlt in unterschiedlicher Weise bis in die Gegenwart aus. Für das römische Reich hatte das damals enorme Folgen, es gab ja Sklaven, und Frauen und Kinder wurden rechtlich ähnlich wie Sklaven, also wie Eigentum, behandelt. Das Christentum veränderte dies und führte etwa zu einer grösseren sozialen Sicherheit für Frauen. Deshalb treffen die Missbrauchsvorwürfe die katholische Kirche auch so fundamental, weil hier Grundwerte verraten werden, die das Christentum seit 2000 Jahren vertritt.

Auch mit der Gleichberechtigung der Frau tut sich die katholische Kirche schwer.

In der Moderne ist die Emanzipation der Frauen über das hinausgegangen, was die Kirche für richtig und anständig hielt. Aber grundsätzlich prägen die christlichen Werte bis heute unser Verhältnis zu Familie, Beziehung und Privatleben, auch wenn die konkrete Ausgestaltung sich heute von kirchlichen Vorstellungen emanzipiert hat, etwa bei der «Ehe für alle». Doch auch ihr liegt die im Christentum stark geprägte Idee zugrunde, dass die Liebe zwischen zwei Menschen besonders geschützt werden sollte, weil sie «wert-voll» ist.

Es wird auch gerne behauptet, dass die universalen Menschenrechte und die individuellen Freiheiten ihr geistiges Fundament im Christentum haben. Einverstanden? 

Nicht in dieser Absolutheit. Da ist ein wahrer Kern: die Überzeugung, dass alle Menschen als Ebenbilder Gottes die gleiche Würde besitzen. Aber letztlich wurden die Menschenrechte seit der Aufklärung gegen die Kirche gesellschaftlich und staatlich durchgesetzt. So hat die katholische Kirche die Religionsfreiheit erst in den 1960er-Jahren als Grundrecht akzeptiert. Es gab aber innerhalb des Christentums Bewegungen, die als Vorläufer des modernen Menschenrechtsdenkens gelten können – etwa Missionare, welche die Haltung vertraten, dass man Indios nicht gewaltsam bekehren dürfe. Auch in diesem Fall hat das Christentum also Impulse geliefert, die dann aufgegriffen und über die Kirche hinweg weiterentwickelt wurden.

Die Religionen der Schweiz

Religiosität in der Schweiz.

«Mein Rat: Nehmt es lockerer»

«Einerseits beeindruckt mich, wie gut sich die katholische Kirche hält, andererseits staune ich, dass sie sich noch immer mit Fragen rumschlägt, die wir Reformierten längst geklärt haben. Erschwerend kommt hinzu, dass sie als männerdominierte Institution dabei über Dinge diskutiert, von denen ihre Exponenten eigentlich keine Ahnung haben. Damit verliert sie in der Gesellschaft viel Glaubwürdigkeit, die sie bei Themen wie sozialer Ungerechtigkeit durchaus hat. Immerhin steht sie in der Schweiz bezüglich der Missbrauchsfälle besser da als in vielen anderen Ländern. Das hat sicherlich auch mit den hiesigen demokratischen Strukturen zu tun, von denen auch wir Reformierten profitieren.

«Der Glaube nimmt nicht per se ab, er ist bloss vielfältiger geworden», sagt Michel Müller (55), Kirchenratspräsident der reformierten Kirche des Kantons Zürich.

«Der Glaube nimmt nicht per se ab, er ist bloss vielfältiger geworden», sagt Michel Müller (55), Kirchenratspräsident der reformierten Kirche des Kantons Zürich.

Aber während wir bereit sind, die Dinge immer wieder neu zu betrachten, schleppen die Katholiken eine 2000 Jahre alte Tradition mit sich herum und tun sich schwer mit Anpassungen. Mein Rat wäre: Nehmt es lockerer, kümmert euch um die ganze Schöpfung und nicht so sehr um das, was einzelne alte Männer offenbar verdrängen.

Als Vater eines schwulen Sohns bin ich dankbar, dass die Reformierten in dieser Frage anders ticken. Ich möchte an einen Jesus glauben, der für die Freiheit und das Wohl aller Menschen einritt. Aus meiner Sicht liegt der Schlüssel bei den Frauen: Wenn sie auch in der katholischen Kirche Leitungspositionen einnehmen dürften, würden sich die umstrittenen Themen in die richtige Richtung bewegen.

Was Kirchenaustritte betrifft, scheinen mir die Katholiken bisher im Vorteil; ihre Bindungskraft für die Gläubigen ist stärker als bei uns. Der Glaube in der Gesellschaft nimmt auch nicht per se ab, er ist bloss vielfältiger geworden; immer mehr Leute glauben ausserhalb der Institutionen. Als Verantwortlicher für Tausende von Angestellten beunruhigt mich diese Entwicklung natürlich, aber vielleicht verschiebt sich der gesellschaftliche Fokus von individueller Freiheit später wieder in Richtung Gemeinschaft.»

«Der Spagat zwischen Klerus und Basis wird immer grösser», sagt Andreas Kyriacou (52), Präsident der Freidenker Schweiz.

«Der Spagat zwischen Klerus und Basis wird immer grösser», sagt Andreas Kyriacou (52), Präsident der Freidenker Schweiz. (Bild: Bruce Yim)

«Man braucht Religion immer weniger, um die Welt zu verstehen»

«In Europa muss die katholische Kirche einen immer grösseren Spagat vollbringen zwischen der reinen Lehre des konservativen Klerus und einer zunehmend liberalen Basis – anderswo wird sie von den noch konservativeren Evangelikalen bedrängt. Kurz: Als Wirtschaftsunternehmen ist sie noch immer sehr erfolgreich, bezüglich Kundenbindung hat sie jedoch einen schweren Stand. Umso mehr, als sie die Missbrauchsskandale nach wie vor kleinredet und auch gesellschaftspolitische Debatten nicht gerade meisterhaft handhabt.

Nicht nur werden die eigentlichen Kernbotschaften dadurch kaum mehr gehört, indem sie derart viel unethisches Verhalten in den eigenen Reihen duldet, verwirkt die katholische Kirche auch ihren Anspruch, moralisch hochwertiger zu sein als alle anderen. Zudem ist der Vatikan eine absolute Monarchie wie Saudi-Arabien – da ist es schon ein ziemlicher Hohn, wenn der Papst sich hinstellt und über Menschenrechte referiert. 

Wäre ich an seiner Stelle und müsste Veränderungen anstreben ohne die Kirche gleich ganz aufzulösen, würde ich als Erstes veranlassen, das die Kirche sich in jedem Land vollumfänglich dem Rechtsstaat unterstellt. Ich würde Frauen die gleichen Rechte geben und demokratische Kontrollmechanismen einführen. Aus säkularer Sicht müsste der Vatikan die vielen unter dubiosen Umständen erworbenen Güter zurückgeben und in eine echte gemeinnützige Organisation umgewandelt werden.

Der klare Trend zur Konfessionslosigkeit in der Schweiz überrascht nicht: Man braucht die Religion immer weniger, um die Welt zu verstehen, dafür gibt es heute die Wissenschaft. Und viele wollen sich nicht mehr von einer Kirche vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben. Das sind grundsätzlich sehr erfreuliche Entwicklungen. Klar, einige stellen sich einfach ein eigenes Potpurri von Welterklärungen zusammen. Aber Untersuchungen zeigen auch, dass die Mehrheit der Konfessionslosen in vielem ähnlich tickt: Sie glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod und vertraut der Evolutionstheorie, um zu verstehen, wie unsere Spezies entstanden ist – und nicht Schöpfungsmythen.»

Heiliger Eifer

Heiliger Eifer

Wir sind zwar weniger religiös als früher, in anderen Lebensbereichen aber so hingebungsvoll und ehrgeizig, dass man fast schon von Ersatzreligionen sprechen kann.

1. Ernährung

Bloss nicht zu viel Zucker. Oder Fett. Oder Salz. Oder Fleisch. Überhaupt tierische Produkte. Das ist nicht nur ungesund, es schadet auch der Umwelt und dem Klima. Keinesfalls Erdbeeren im Januar. Auch Avocados sind des Teufels, ganzjährig. Stattdessen ausgiebig frühstücken, sich aber abends zurückhalten. Und nicht zu viele Zwischenmahlzeiten. Oder was immer gerade die neueste Theorie der globalen Armada von Ernährungsexperten ist, die uns missionieren möchten.

2. Gesundheit

Nur ja «richtig» essen (siehe oben), viel Bewegung, mindestens zweimal pro Woche ein, zwei Stunden intensiv Sport. Und keinesfalls rauchen! Auch Alkohol möglichst vermeiden, allenfalls ein, zwei Gläschen Rotwein pro Woche. Am besten lässt man sich von einer Apple Watch oder einem Fitbit-Armband überwachen, um sicherzustellen, dass die Bewegung reicht und der Schlaf in Ordnung ist. Denn wenn nicht, droht die Hölle furchtbarer Krankheiten und ein verfrühtes Ableben.

3. Aussehen

Unbedingt jung, schlank, sportlich. Falls Altern sich gar nicht vermeiden lässt, wenigstens «jung» kleiden und verhalten – und all die Cremes und sonstigen Produkte der Kosmetikindustrie grosszügig anwenden, egal was sie bewirken. Viel Sport, gerne in der Mittagspause, ansonsten zwingend abends und am Wochenende. Bei zu vielen Fettröllchen: Diät, Diät, Diät, koste es, was es wolle. Modemagazine regelmässig konsultieren, um die neusten Trends nicht zu verpassen. Denn je mehr Leute entsprechend aussehen, desto schneller wird es langweilig, weshalb es rasch wieder einen neuen Trend braucht, dem erneut alle folgen, wie einst die Jünger Jesus Christus.

4. Umwelt

Geht rapide den Bach runter und muss deshalb dringend geschützt werden. Und wenn Politik und Wirtschaft das nicht zustande bringen, muss eben jeder Einzelne ran. Also: keinesfalls fliegen! Keine Plastiksäcke oder Shampoos mit Mikroplastik verwenden. Niemals Glas, Metall oder Papier in den Abfall werfen, auch nicht das zerfetzte Kassenzettelchen von der Migros. ÖV statt Auto, noch besser: Velo benutzen oder zu Fuss gehen. Wenn Auto, höchstens Mobility oder E-Mobil. Ja nicht auf dem Land im Häuschen mit Umschwung leben und dann auch noch stundenlang zum Job pendeln. Mindestens Erdwärme statt Erdöl, besser: Solaranlage auf dem Dach. Nur regionale Produkte einkaufen. Und niemals, wirklich auf gar keinen Fall Kinder in die Welt setzen, denn das potenziert den Schaden erheblich, den man bereits mit der eigenen Existenz anrichtet. Wer sündigt, zerstört das Paradies!

5. Spiritualität

Okay, es mag keinen Gott geben, aber irgendwo muss man ja hin mit seinen spirituellen Bedürfnissen und Transzendenzsehnsüchten. Das Angebot ist breit, und man kann sich ihm genauso hingebungsvoll und eifrig widmen wie dem christlichen Glauben. Da sind: der indische Guru mit dem Reinkarnationsversprechen; die weise Frau, die aus den Karten/Sternen/der Hand die Zukunft liest; heilende Kristalle; das Lösen von Energieblockaden mittels Klangschalentherapie; das Medium, durch dessen Kräfte wir uns mit der verstorbenen Urgrossmutter austauschen können. Die Möglichkeiten sind endlos, denn der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und wer eine Idee hat, die ankommt, kann richtig Geld machen – fast so viel wie die mit der Gottsache.

*Ralf Kaminski (49) isst definitiv zu viel Schokolade und Chips, ab und zu auch Fleisch, geht jedoch zweimal pro Woche ins Fitnesscenter und hat nie geraucht. Er fliegt zwar zu häufig, hat aber kein Auto, keine Kinder und kurze Pendelzeiten. Der Atheist mag Fantasy, Esoterik hingegen geht ihm zu weit.

«Ich wünsche mir, dass kritische Stimmen mehr gehört werden», sagt Franziska Driessen (49), erste Synodalratspräsidentin der katholischen Kirche im Kanton Zürich.

«Ich wünsche mir, dass kritische Stimmen mehr gehört werden», sagt Franziska Driessen (49), erste Synodalratspräsidentin der katholischen Kirche im Kanton Zürich. (Bild: Christoph Wider)

«Ernüchternd, wie wenig sich bisher bewegt hat»

«Auf den ersten Blick geht es der katholischen Kirche weltweit wunderbar, sie wächst und gedeiht. Was wir aus Rom oder von der Bistumsleitung in Chur zu hören bekommen, ist aber nicht immer so positiv. Und die vielen Missbrauchsfälle belasten die Kirche sehr – auch mich persönlich. Solange wir nichts an den Machtverhältnissen im System ändern, wird es solche Fälle geben. So gesehen bin ich dankbar für alles, was ans Tageslicht kommt und die Menschen aufrüttelt.

‹Liebe deinen Nächsten wie dich selbst› ist für mich die Kernbotschaft der Kirche. Ich glaube auch, dass sie beim Einzelnen immer noch ankommt. Aber es ist schon ernüchternd, wie wenig sich in gesellschaftlichen Fragen getan hat. Dass letztes Jahr sechs prominente Frauen ausgetreten sind, weil sie die Hoffnung auf positive Veränderungen verloren haben, kann ich durchaus verstehen. Wenn wir in zehn Jahren noch immer nicht weiter sind, werden wir ernsthafte Probleme bekommen. Immerhin können wir lokal Zeichen setzen. Wir unterstützen zum Beispiel seit Jahren den Gottesdienst an der ‹Zurich Pride›.

Ich wünsche mir, dass kritische Stimmen mehr gehört und autoritäre Machtstrukturen aufgebrochen werden, dass Frauen mehr Verantwortung bekommen und Homosexuelle und Transmenschen besser akzeptiert werden. Klar, damit würden wir uns den Reformierten annähern, aber das finde ich kein Problem, wir können dabei nur gewinnen. Bestimmt würden dann auch weniger Menschen aus der Kirche austreten. 

Viele, die das tun, bleiben aber spirituell aktiv. Und es gibt auch weiterhin Kirchen, die sonntags voll sind, unsere Migrantenseelsorgen, die ihre Religiosität im Kanton Zürich in 22 Sprachen sehr aktiv pflegen, die Herz Jesu Kirche in Zürich oder auch das Grossmünster. Aber das ändert nichts daran, dass wir in unseren reichen Gesellschaften ganz andere Sorgen haben als früher – und dadurch weniger nach spirituellen Inhalten suchen. Da tut es dann vielleicht auch eine Meditation oder eine Sitzung beim Psychiater. Ich selbst schätze die Gemeinschaft in unserer Pfarrei und den regen Austausch mit Menschen. Deshalb suche ich auch keine Alternativen.»

Kirche im Schraubstock

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