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Prävention Essstörungen

Wenn der Blick in den Spiegel stresst

Schon Kinder leiden unter Essstörungen, und viele Jugendliche sind mit ihrem Körper unzufrieden. Ein Workshop des Berner Inselspitals soll bei ihnen ein positives Selbst- und Körperbild fördern. Das Migros-Magazin war bei einer Realklasse im Kanton Bern dabei.

Text Ralf Kaminski
Fotos Raffael Waldner
Datum
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Workshop «Bodytalk» an der Schule Riedern in Uetendorf BE: Kursleiterin Brigitte Rychen (rechts) hat die volle Aufmerksamkeit der Jugendlichen.

Der Workshop beginnt mit einem entlarvenden Spiel. Leiterin Brigitte Rychen (56) konfrontiert die 15 Schülerinnen und Schüler mit zwei Behauptungen: «Untrainierte Männer haben keine Chance bei Frauen» und «Männer finden nur schlanke Frauen attraktiv». Wer der Aussage zustimmt, geht im Raum nach rechts, wer sie ablehnt, nach links. Bei der ersten findet sich fast die ganze Gruppe links, nur einer hält sich in der Mitte. Bei der zweiten gehen viele der Jungs nach rechts, die meisten Mädchen halten sich in der Mitte – links steht niemand.

Das sei ziemlich typisch, sagt Rychen und fragt bei Einzelnen nach, wie sie das erleben. Mehrere Mädchen bestätigen, dass ihnen der Charakter eines Jungen wichtiger ist als das Aussehen, mehrere Jungs bestätigen, dass ihr Typ Frau dünn sei – einer hält fest, dass der Charakter für ihn schon eine Rolle spiele.

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Laut aktuellen Studien sind rund 50 Prozent der Mädchen und 39 Prozent der Jungs in der Schweiz mit ihrem Körper nicht zufrieden. Und dies, obwohl 75 Prozent der Schweizer Jugendlichen im Normalgewichtsbereich sind. Kann man daran mit einem Workshop etwas ändern?

«Man kann Bewusstsein schaffen», sagt Brigitte Rychen, die die Fachstelle Prävention Essstörungen Praxisnah (PEP) am Inselspital Bern leitet und bereits seit zwölf Jahren Schulen mit ihrem Workshop «Bodytalk PEP» besucht. Ihr Ziel: Jugendliche für einen besseren, realistischeren und freundlichen Umgang mit ihrem Körper sensibilisieren, damit es gar nicht erst zu Essstörungen kommt.

Zwei Schulstunden hat Rychen mit den 15- und 16-jährigen Realschülerinnen und -schülern der 9b aus der Schule Riedern in Uetendorf BE. Im Voraus weiss sie nie genau, was auf sie zukommt. Manchmal sind die Jugendlichen kommunikativ und offen, manchmal verschlossen oder gar schwierig. Doch hier machen die Jugendlichen recht aktiv mit, einige berichten sogar sehr Persönliches.

Blöde Sprüche wegstecken

Das einzige kurzhaarige Mädchen in der Runde erzählt, dass sie sich wegen ihres Haarschnitts schon eine Menge blöder Sprüche anhören musste, etwa ob sie lesbisch sei oder trans. «Das hat mich schon beschäftigt, und ich habe deswegen manchmal auch schlecht geschlafen. Mir gefällt aber dieser Look.» – «Mir hat man schon gesagt, ich sei zu dick und zu wenig trainiert», wirft ein Junge ein. «Es ist nicht immer leicht, so was wegzustecken.»

Der Workshop soll zu einem Dialog führen. «Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern darum auszutauschen, wie es einem geht – und zu merken, dass diese Themen auch andere beschäftigen. Wir wollen Tabuisierungen auflösen», erklärt Rychen.

Sie stellt in den 90 Minuten viele Fragen, manchmal in die Runde, manchmal gezielt einzelnen Jugendlichen. So entspinnt sich etwa ein längeres Gespräch übers Beine rasieren: Alle Mädchen in der Klasse tun es, keiner der Jungs. Worauf Rychen festhält, dass es aber durchaus auch Männer gebe, die dies täten oder sich zum Beispiel schminkten wie etwa der Fussballstar Ronaldo. Der ebenfalls anwesende Klassenlehrer erzählt daraufhin, dass er sich die Beine rasiere, unter leidenschaftlichen Velofahrern sei das recht üblich.

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«Ich mache mich nicht für Jungs hübsch, sondern für mich – weil ich mich dann wohler fühle.» Tamara (15)

Es gibt auch einige, die recht still bleiben, und andere, die mit Gelächter auf gewisse Aussagen reagieren. Letzteres wird von Rychen immer sofort angegangen, denn zum Konzept des Workshops gehört es, dass nichts urteilend kommentiert wird und alles im Raum vertraulich ist. Einen Jungen bittet Rychen sogar, vor die Tür zu gehen, bis er sich wieder erholt hat, holt ihn dann aber nach einer Klärung der Situation wieder hinzu.

Auch dieser sagt jedoch am Ende, dass er den Workshop interessant und die Beschäftigung mit diesen Themen nützlich fand. So sehen das auch Jamie, Tamara, Jules und Joshua, die sich anschliessend noch zu einem Gespräch im kleinen Kreis bereiterklärt haben. «Es war sehr informativ und abwechslungsreich», sind sie sich einig. Spannend fanden sie nicht zuletzt, dadurch etwas mehr über die Haltung ihrer Klassenkameraden zu erfahren.

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«Es gibt schon Momente, wo ich mich frage, ob ich mehr Sport machen sollte.» Joshua (15)

«Mich hat überrascht, dass die Unterschiede bei den Ja-Nein-Fragen so gering waren», sagt Joshua. Jules wiederum hat gestaunt, dass so viele Mädchen Jungs auch ohne Sixpack gut finden. Alle vier denken, dass der Workshop ihnen geholfen hat, künftig selbstbewusster zu sein, wenn es um ihren Körper geht.

Sie haben auch Dinge erfahren, die ihnen vorher nicht bewusst waren. «Dass die Kleidergrössen von Hosen derart unterschiedlich sind, hätte ich nie gedacht», sagt Jamie. Brigitte Rychen hatte im Workshop anhand von zwei Frauenhosen demonstriert, dass sich der Bundumfang je nach Laden trotz gleicher Grössenangabe um bis zu 6,5 Zentimeter unterscheiden kann – es also oft nicht an einem selbst liegt, wenn die sonst vertraute Kleidergrösse plötzlich zu klein ist. «Frauen fürchten meist, dass sie zugenommen haben, wenn so etwas passiert», ergänzt Tamara. «Da werde ich mir in Zukunft sicher weniger Gedanken machen.»

Sind sie selbst mit ihren Körpern zufrieden? Beide Jungs sagen Ja – und sie liessen sich auch durch dumme Sprüche nicht aus der Ruhe bringen. «Die nerven natürlich, aber ändern nichts an dem, wie ich mich sehe», sagt Jules. Joshua räumt ein, dass es Momente gebe, wo er sich schon frage, ob er mehr Sport machen sollte – aber er tue es dann doch nicht. Beide halten sich von Fitnesscentern fern. «Ich gehe lieber mal schwimmen oder bewege mich draussen», sagt Jules.

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«Es gibt Leute, die sagen, ich sei dick. Da schaut man sich dann schon etwas anders an.» Jamie (16)

Bei den Mädchen ist es stimmungs- und tagesabhängig. «Es gibt Tage, da bin ich weniger zufrieden mit mir», sagt Jamie. «Ich habe bereits von einigen Leuten gehört, ich sei dick, und da schaut man sich dann schon anders an und überlegt, ob man nicht etwas ändern müsste.» Dennoch sei sie «meistens grundsätzlich zufrieden» mit sich. «Ich mache mich nicht für die Jungs hübsch, sondern für mich», sagt Tamara, «weil ich mich dann wohler fühle: Wenn die Haare nach dem Coiffeur wieder richtig perfekt sind, ist das ein tolles Gefühl.»

Diejenigen, die Sport treiben, machen dies aus Spass, nicht um fit oder schlank zu bleiben. Das passiert eher übers Essen. «Es kommt schon vor, dass ich bewusst für einige Zeit nichts Süsses esse», sagt Jules. Andere verzichten ab und zu auf Fast Food, aber echte Diäten haben sie noch nie gemacht.

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«Dumme Sprüche nerven natürlich, aber ändern nichts an dem, wie ich mich sehe.» Jules (15)

Und alle vier waren sich schon vor dem Workshop bewusst, dass die Fotos von Menschen in der Werbung und in den sozialen Medien selten der Realität entsprechen, sondern mit Computerprogrammen aufgehübscht wurden.

Ein gutes Selbstbewusstsein hilft

Pro Woche sehe man im Schnitt 2000 bis 5000 solcher bearbeiteten Bilder, schätzt Brigitte Rychen. «Man muss lernen, damit umzugehen. Solche Bilder richtig einzuordnen, ist eine grosse Herausforderung, gerade für Jugendliche, die oft unzufrieden sind mit sich.» Wer allerdings mit sich zufrieden sei, könne sich meist gut abgrenzen, von Fotos ebenso wie von dummen Sprüchen. «Generell hilft ein gutes Selbstwertgefühl, das sich auch gegenüber Freunden und Kolleginnen rüberbringen lässt.»

Die Rückmeldungen von Schulen und Teilnehmenden sind in der Regel positiv, sagt Rychen. «Es ist schon ein Erfolg, wenn wir eine einzige betroffene Person erreichen und etwas bewegen können.» Gelegentlich führt sie auch Veranstaltungen in Klassen durch, wo sie im Voraus weiss, dass einige mit Essstörungen kämpfen. «Dort geht es dann weniger um Prävention als um Intervention.» 

Auch für Brigitte Rychen sind die Erfahrungen während der Workshops  mehrheitlich positiv. «Viele Jugendliche sind bemerkenswert reflektiert.» Verhaltensänderungen jedoch passierten nicht von einem Tag auf den anderen. «Das braucht Zeit. Deshalb ist es wichtig, dass diese Themen auch sonst in der Schule und im Alltag präsent sind.»

Die Message des Songs «All About That Bass» von Meghan Trainor ist laut Fachstelle PEP eine gute und wichtige Lektion, gerade für junge Mädchen. Diese lernen in unserer Gesellschaft, dass Models, denen mit Photoshop die Beine länger gemacht und der Hals gestreckt wurde, das Körperideal sind, das man als Frau anstreben sollte. Trainor macht klar: Man muss sich und seinen Körper nicht verstecken, ganz egal wie man aussieht und welche Kleidergrösse man trägt.

Der Druck beginnt schon früh

Diäten gehören heute zum Alltag, «fast alle machen irgendwas», sagt Brigitte Rychen von der Fachstelle Prävention Essstörungen Praxis­nah (PEP). Es gebe auch immer mehr massiven Druck auf immer jüngere Kinder durch ihre Peers, die kritisch über Körper redeten.

Die Zahl der Erstberatungen durch PEP zu Essstörungen ist seit 2012 deutlich gestiegen. Damals waren es 47, davon 20 zu Magersucht – 2020 waren es bis Ende Oktober bereits 94, davon 62 zu Magersucht. Auch die Coronakrise hat dazu beigetragen. «Wenn die Welt unsicher ist und ausser ­Kontrolle gerät, kann man sich wenigstens mit dem Gefühl trösten, ­seinen Körper im Griff zu haben», ­erklärt Rychen. «Magersüchtige ­essen dann einfach nicht.» Hinter dem problematischen Essverhalten stehe letztlich die Regulation von Ängsten und anderen nega­tiven Gefühlen.

Beim Berner Inselspital liessen sich in der psychosomatischen ­Medizin zwischen 2016 und Frühling 2019 320 Personen neu wegen Essstörungen beraten, davon ­waren 92 Prozent Frauen. Die Zahl der Behandlungen nahm bis 2018 jeweils leicht zu, blieb 2019 jedoch stabil. Ein Grund für die Zunahme könnte auch sein, dass das Behandlungsangebot des Inselspitals erweitert und bekannter wurde.

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