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Handgeschriebene Briefe

Wer schreibt heute noch Briefe?

Handgeschriebene Briefe haben auch in Zeiten von WhatsApp und SMS eine treue Anhängerschaft. Acht Schreibende berichten von ihrer Liebe zu Schrift und Papier und von Freundschaften der besonderen Art.

Text Anne-Sophie Keller
Datum
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Nicht jeder Brief muss auch zwingen verschickt werden: Nora Zukker (34) hat sogar ihrem Zeh, den sie bei einem Unfall verloren hat, einen Brief gewidmet.

Manchmal schreibe ich, bis mir die Hand einschläft», erzählt Bettina Aebi (29). Doch um keinen Preis würde die Bernerin das Briefeschreiben aufgeben: «Ständig schreiben wir Mails oder SMS. Aber das Handgeschriebene braucht Zeit und Hingabe.» In ihrem Alltag als Anwältin ist die Korrespondenz eher sachlicher Natur: «Umso schöner ist es, privat Dinge zu schreiben, die von Herzen kommen.» Als Kind hat Aebi immer geduldig auf die Post gewartet. Findet sie heute unter Werbung und Rechnungen im Briefkasten einen Brief, sei das immer eine schöne Überraschung: «Dieses schöne Gefühl möchte ich auch anderen bereiten.»

Für Nora Zukker (34) ist es «eine Ansage, einen Brief zu schreiben». «Man setzt sich hin, gibt sich Mühe, schickt ihn ab und sitzt dann in der Erwartung da, ob und wann etwas zurückkommt.» Die Zeit des Wartens empfindet sie als aufregend: «Bei WhatsApp kommen ja manchmal bloss zwei Häkchen und nichts mehr.» Nicht alles, was Zukker schreibt, schickt sie auch ab. Sie schreibt, um Dinge zu klären – auch mit sich selbst. 2018 verlor sie bei einem Unfall einen Zeh. Sogar diesem hat sie schon Briefe gewidmet: «Ihm zu schreiben, wie es mir ohne ihn geht, ist etwas Schönes und auch Erheiterndes.»

Mit Füller für Wahrhaftiges

Für Nora Zukker ist das Briefeschreiben nicht nur Beziehungspflege oder Selbstreflexion, sondern auch ein Lifestyle. Die Journalistin und Moderatorin schreibt bei einem Glas Wein, guter Musik und einer Kerze mit Tinte und ihrem Lieblingsfüller: «Den Lamy 2000 habe ich nach zwei Stunden Probeschreiben im Laden ausgesucht.» Für eine lebenslange Investition seien die 300 Franken völlig gerechtfertigt. «Dazu kommt das handgeschöpfte japanische Papier, das man zuerst völlig überflüssig findet. Bis man mal darauf schreibt und merkt, dass es sich wie Butter anfühlt», schwärmt sie. Das Briefeschreiben bedeutet für sie Nostalgie. «Schreiben mit Füller hat für mich etwas Wahrhaftiges. Auch wenn es unpraktisch ist: Ein Tropfen Tee, und es gibt eine Riesensauerei.»

Ist Briefeschreiben ein neuer Trend? Analoge Rückbesinnung statt digitaler Massenware? Die Zahlen der Post sprechen gegen diese These: Im Gegensatz zu den Paketen ist das Briefgeschäft seit Jahren rückläufig. 2019 wurden rund 1,8 Milliarden Briefe verschickt; rund fünf Prozent weniger als im Vorjahr. Und 18 Prozent weniger als noch vor fünf Jahren. Die Briefgemeinde ist also klein, aber fein. Der britische Postservice, die Royal Mail, hat jüngst eine Umfrage zum Thema gemacht: Fast drei Viertel der Befragten glauben, dass das Schreiben von Briefen positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat. Zu den Vorteilen gehören die Steigerung des Wohlbefindens, die Verringerung von Stress und die Förderung der Achtsamkeit.

Brieffreundschaft fürs Leben

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Chiara Herold (25) pflegt mit Noemi Somalvico (27) seit zehn Jahren eine Brieffreundschaft. «Es ist wie Tagebuchschreiben – mit einer besten Freundin. Ich finde dabei Ruhe und Klarheit», sagt Herold. Wenn sie von Hand schreibt, ist sie näher bei sich selbst: «Am Computer hacke ich oft unbedacht irgendetwas in die Tastatur.» Herold studiert Englische Literatur; ihre Brieffreundin ist Schriftstellerin; die Worte sind die gemeinsame Leidenschaft. Telefoniert wird nur, wenn etwas sehr dringend ist. Und WhatsApp ist bei beiden eher tief im Kurs: «Dort muss immer gleich geantwortet werden. Aber manchmal wollen wir ja gar keine Reaktion, sondern nur Dinge loswerden, irgendwo ein Gefäss für die Gedanken haben.» Die zwei Frauen übergeben sich jeden Monat ein «Brieftäschli», in dem die Briefe stecken. «Früher haben wir sogar ein Brieffest gemacht und unsere eigenen Briefe gelesen.»

Ines Aubert (59) pflegt Brieffreundschaften der besonderen Art. Die Heilpädagogin aus Wermatswil ZH schreibt seit 20 Jahren mit Häftlingen, die in den USA auf die Todesstrafe warten. Ihr erster Brieffreund: Mariano Rosales (82), ein ehemaliger Baumwollpflücker aus Houston. Als er seine Frau mit einem Liebhaber erwischte, erschoss er den Mann und tötete dabei noch zwei im Weg stehende Menschen. «Mariano war ein ungeübter Schreiber, der vor allem Bibelstellen abgeschrieben hat. Erst im Laufe der Jahre wurden seine Briefe persönlich. Später habe ich sogar seine Familie kennengelernt», erzählt Aubert.

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Aktuell pflegt sie sieben Brieffreundschaften – und erntet einiges an Kritik. Verharmlost sie die Taten? Hat sie ein Helfersyndrom? Nichts davon. «Wenn man über Jahre mit jemandem schreibt, lernt man ihn und seine ganze Lebenssituation kennen. Das ist lehrreich.» Aubert hat mit «connectdeathrow» ein Projekt lanciert, in dem Jugendliche und andere Interessierte an Gefangene schreiben können. Die Gefangenen werden dabei von Aubert ausgewählt, und die Briefe bleiben anonym. «Die Schreibenden lernen durch den Austausch, dass es zwar Menschen sind, die etwas Monströses gemacht haben – aber keine Monster.»

Briefe für die Beziehung

Die Wirkung von Briefen kennt auch Felizitas Ambauen (39). Die Psychotherapeutin aus Nidwalden begleitet zusammen mit ihrem Mann, Amel Rizvanovic, Paare in herausfordernden Lebenssituationen. «Wir empfehlen ihnen oft, schwierige Themen in einem Brief zu formulieren. Zum Beispiel Ängste oder Wünsche.» Briefe seien oft einfacher als eine persönliche Konfrontation, da sie dem Gegenüber Raum für eine Reaktion im eigenen Tempo lassen. Ein wichtiger Tipp: «Ich empfehle, zuerst eine Version zu schreiben, die man niemals abschicken würde. Wenn man will auch mit Schimpfwörtern, Beleidigungen, Vorwürfen. Einfach mal alles deponieren. Schon das hat eine Wirkung. Ein paar Tage später schreibt man eine zweite oder dritte Version, die man dann auch abschickt.»

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«Klein, aber fein», lautet die Devise bei Max (72) und Liliane Zimmermann (68) aus Gränichen AG: Wenn die pensionierte Heilpädagogin jeweils vom Ausgang nach Hause kommt, findet sie jedes Mal eine handgeschriebene Botschaft ihres Mannes vor: Der ehemalige Hochbauzeichner hinterlässt ihr kleine Post-its mit Illustrationen und einem Gutenachtgruss. «Auch wenn ich es mittlerweile weiss, ist es immer noch eine Überraschung», sagt sie. Kennengelernt haben sich die beiden vor 53 Jahren als Teenager bei einem Konzert. «Der erste Brief kam zum Vier-Monate-Jubiläum», erinnert sich Liliane Zimmermann. Danach folgten die Briefe aus dem Militär. Und heute gibts zu jedem Hochzeitstag eine ganz besondere Karte. «Er näht mir zum Beispiel etwas auf ein Blatt aus dem Garten.» Sie erwidert die Liebesbriefe klassisch auf Papier. «Sich ab und zu zu schreiben, schafft Verbundenheit.»

Kleine Geste mit grosser Wirkung

Petra Lehr hat das Schreiben von Briefen auch im beruflichen Kontext wiederentdeckt. Die 51-Jährige arbeitet als Laborsekretärin im Kinderspital Zürich. Dort schreiben ihr Vorgesetzter und sie die ganze Weihnachtspost von Hand. «So nehmen wir uns einen Moment Zeit, jemandem die Wertschätzung entgegenzubringen.» 80 Briefe sind es jährlich. Und auch privat bevorzugt sie das Handgeschriebene. «Ich glaube, das geht heutzutage verloren: Man schreibt gerne mal 50 Menschen auf WhatsApp, aber das macht keine Freude. Mir gefällt es, die Karten auszusuchen und allen etwas anderes zu schreiben. Das ist eine kleine Geste mit grosser Wirkung. Und es kommt zurück.»

Bei Heinrich Etzensperger (91) kam etwas zurück: dieser Artikel. Der pensionierte Buchhalter aus Glis VS hat dem Migros-Magazin nämlich im Sommer einen Leserbrief geschrieben. Darin erzählte er, wie er Gottlieb Duttweiler an der Landesausstellung getroffen hatte: «Die Landi 1939 war sehr volksnah. Ich komme aus einer Familie, die nicht viel Geld hatte. Wir waren wahnsinnig stolz, dass wir ihn sehen durften», sagt er im Gespräch. Die Begegnung sei ihm bis heute geblieben. Also hat er sie aufgeschrieben und der Redaktion geschickt. «Dass jetzt jemand geantwortet hat, freut mich sehr.»

Etzensperger war Redaktor der Firmenzeitung «Lonza Aktuell» und verfasste in der Freizeit Reiseberichte. Er sei ein «Pfahlbauer, was Handys betrifft», und den Computer, den er kurz vor der Pensionierung erhielt, habe er nie benutzt: «Wenn ich etwas wissen wollte, habe ich mir die Informationen bei den Leuten besorgt. Heute wäre das nicht mehr möglich.»

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Heinrich Etzensperger's Brief an das Migros Magazin.

Alles fürs Briefeschreiben in Ihrer Migros

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