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Jakob Tanner

Die Schweiz der Nachkriegszeit

Die Schweiz habe bei Kriegsende 1945 fast irreal intakt gewirkt, doch ihr Ruf sei ziemlich ruiniert gewesen, sagt der Historiker Jakob Tanner. Ein Gespräch über die Erfindung des «Sonderfalls» und die Tendenz von rechts, Errungenschaften der Nachkriegszeit aufs Spiel zu setzen.

Text Ralf Kaminski
Datum
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Jakob Tanner (69) ist emeritierter Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Der Historiker gehörte von 1996 bis 2001 der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg an («Bergier-Kommission») und ist Autor der «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert».

Halb Europa lag in Trümmern, als Nazi-Deutschland am 8. Mai 1945 kapitulierte und der Zweite Weltkrieg in diesem Teil der Welt zu Ende ging. Wie ging es der Schweiz damals?

Sie wirkte fast schon irreal intakt. Die ganze historische Bausubstanz war noch da, die Industrie gut in Fahrt und vorbereitet für die schon bald boomende Konjunktur – von aussen betrachtet schien die Schweiz, wie wenn nichts passiert wäre. «Wir sind nochmals davon gekommen», war eine verbreitete Stimmung im Land. Blickt man etwas tiefer, sieht es nicht ganz so rosig aus.

Weshalb?

Kurz vor Kriegsende stieg die Verunsicherung nochmals stark an. Es gab grosse Ängste vor unkontrollierten Grenzübertritten und Seuchen. Zudem hatten 1943 Streikbewegungen der Arbeiterschaft begonnen, und die Meinungen im Land wie es nun weitergehen soll, waren durchaus polarisiert – das Militär fürchtete gar eine «Friedenspsychose», dass also die Bevölkerung den Frieden zu ernst nehmen und die Wehrhaftigkeit darunter leiden könnte. Weit verbreitet war das Bedürfnis, mit den Nazi-Sympathisanten im Land abzurechnen.

Die Schweiz war wirtschaftlich stark mit den Nazis verflochten. Wie gelang es ihr dennoch, ihren guten Ruf zu bewahren?

1945 war der erst mal ziemlich ruiniert. Für ein Land, das mit den Nazis wirtschaftlich kollaboriert hatte und noch bis Frühling 1945 mit der deutschen Reichsbank Raubgoldgeschäfte abwickelte, war es schwierig, eine neutrale Haltung zu behaupten. Die Alliierten bauten bei Kriegsende einen starken Druck auf. Schliesslich verpflichtete sich die Schweiz 1946 mit dem Washingtoner Abkommen zur Zahlung von 250 Millionen Franken, sah dies allerdings als «freiwilligen Beitrag zum Aufbau Europas». Mit dem aufkommenden Kalten Krieg vermochte sie ihre Reputation wieder aufzupolieren. Trotz Beharren auf Neutralität wurde sie eine treue Verbündete der Westmächte.

Dadurch verschwand der Druck?

Nicht völlig. Auch in der Schweiz gab es Kritik, doch die Bemühungen zur historischen Aufarbeitung wurden von offizieller Seite systematisch unterdrückt. Diese amtliche Geschichtsverhinderung hielt bis anfangs der 1960er-Jahre an. Als dann Quellensammlungen in ausländischen Archiven zugänglich wurden, musste die Schweiz nachgeben.

Buchtipp: Alfonso Pecorelli, Pascal Scheidegger: «Finsterzeit», Graphic Novel über die Gründe und den Verlauf des Zweiten Weltkriegs; auch bei exlibris.ch

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Selbst die Schweiz blieb während des Kriegs nicht ganz verschont. Im Bild die Feuerwehr in Schaffhausen, die am 1. April 1944 versucht, die Brände zu löschen, die durch einen versehentlichen Luftangriff von US-Bombern entstanden. (Bild:KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Walter Scheiwiller/Milou Steiner/Eugen Suter; nachträglich koloriert)

Tickte sie anders als andere Staaten?

In vielem war sie ein westeuropäischer Normalfall: Demokratie mit Grundrechten und -werten, Wirtschaftswunder, Sozialstaat. Aber sie verweigerte sich dem Frauenstimmrecht und setzte auf die Mythologisierung der Aktivdienstgeneration. Und sie erfand sich neu als «Sonderfall».

Weshalb das?

Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Stimmbürger beschlossen, dem Völkerbund beizutreten. Auch die Mitgliedschaft bei der Uno wurde 1945 ernsthaft in Betracht gezogen. Doch die Neutralitätsvorbehalte wurden dann immer wichtiger, und so beschloss man, auf einen Beitritt zu verzichten. Die Schweiz verliebte sich sozusagen in ihre Besonderheiten und verklärte diese zu Alleinstellungsmerkmalen. Sie stilisierte sich als Sonderfall, der den nationalen Alleingang wählte.

Weshalb gelang es, sich als «neutrales Land» zu positionieren, obwohl die Schweiz ganz klar Teil der westlichen Welt war?

In gewisser Hinsicht war sie tatsächlich neutral: Sie hielt sich aus Kriegen und «politischen» internationalen Organisationen raus. Gleichzeitig bot sie sich Konfliktparteien erfolgreich als Vermittlerin an, so etwa im Koreakrieg. Nach innen allerdings praktizierte sie während des Kalten Kriegs einen militanten Antikommunismus und profilierte sich als Teil des «freien Westens». Der Publizist Jean Rudolf von Salis stellte anfangs der 60er-Jahre fest, man könnte aus der Medienberichterstattung vermuten, «wir stünden schweissbedeckt irgendwo vorn an der Front».

Auch heute wird die Neutralität noch beschworen, aber hat das in der aktuellen multipolaren Welt noch eine Bedeutung?

Ihre innere Funktion hat sie behalten: Die Schweiz kann so vermeiden, in Zerreissproben über die aussenpolitische Ausrichtung hineinzugeraten. Nach aussen hingegen wirkt eine passive «Gewehr bei Fuss»-Stellung zunehmend hilflos und selbstgerecht. Schon im Zweiten Weltkrieg konnte die Schweiz nur neutral bleiben, weil sie nicht angegriffen wurde – und als demokratisches Staatswesen hat sie nur überlebt, weil die Alliierten den Krieg gewonnen haben. Dies könnte die Einsicht stärken, dass die Schweiz ihre Neutralität weit aktiver handhaben sollte, als dies während des Kalten Krieges und auch nach 1989 der Fall war.

Wodurch zeichnete sich die Nachkriegsordnung aus, die jahrzehntelang für Frieden und Prosperität in Westeuropa sorgte?

Nach den Kriegserfahrungen mit ihren massiven Zerstörungen entstanden viele Ideen zur Überwindung des Nationalismus durch die Einbindung der europäischen Länder in suprastaatliche Strukturen. Damit veränderte sich auch die Vorstellung der staatlichen Aufgaben: Im Zentrum standen nun die Absicherung der Bevölkerung mit Sozialleistungen, eine wachstumsfördernde Wirtschaftspolitik sowie eine sinnvolle Bildungs- und Gesundheitspolitik. So verwandelten sich Nationalstaaten von kriegsbereiten Destruktionsmaschinen in Wegbereiter einer prosperierenden Konsumgesellschaft. Wichtig war auch der mentale Umbau, der das Verhältnis der alten «Erbfeinde» Deutschland und Frankreich umpolte. Dies war ein zentraler Faktor für jahrzehntelangen Frieden und Wohlstand.

Hätte es auch ganz anders laufen können?

Der Kalte Krieg war ein Vabanque-Spiel. Die beiden Blöcke konnten sich wechselseitig mit ihren Atomwaffenarsenalen zerstören – dieses Bewusstsein brachte eine gewisse Stabilität, aber keine Sicherheit. Es hätte tatsächlich anders laufen können. Bei der Kuba-Krise von 1962 befand sich die Welt sehr nahe am Abgrund. Immerzu gab es auch eine Fülle bewaffneter Konflikte, die aus dem Ruder hätten laufen können. Da war wohl auch viel Glück im Spiel, dass es nicht schief ging.

Die prosperierende Wirtschaft hat vermutlich geholfen, oder?

Der steigende Wohlstand ab Mitte der 1950er-Jahre hat sicher zu einer friedlicheren Grundstimmung beigetragen – in der Schweiz auch zum Frieden zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, nachdem es von 1943 bis 46 noch eine grosse Streikwelle gegeben hatte. Anschliessend wurde die Arbeiterbewegung in die Konkordanzdemokratie eingebunden, so verfestigte sich ein kooperativer Kapitalismus.

Einige Elemente der Nachkriegsordnung stehen heute unter Druck: internationale Kooperation, barrierefreier Handel, eine Werteordnung auf Basis der Menschenrechte, Gewaltenteilung, Pressefreiheit...

Absolut. Schon nach der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er-Jahre wurde das Staatsmodell der Nachkriegszeit von rechts her in Frage gestellt. Diese Angriffe haben sich nun mit dem Aufstieg einer neuen nationalen Rechten massiv ausgeweitet. Im Visier stehen vor allem Grundfreiheiten und Menschenrechte. Ausserdem wird die Pressefreiheit durch Fake-News-Kampagnen und «Lügenpresse»-Propaganda unterminiert. Populisten versprechen einfache Lösungen für komplexe Probleme – und wenn diese vorhersehbar nicht funktionieren, wird nach Sündenböcken gesucht.

Wie kommt es, dass so viele bereit sind, diese Errungenschaften aufs Spiel zu setzen?

Es gibt in jeder Gesellschaft Leute, die zu nationalistischen und rechtsextremen Ideen neigen – deren Anteil hat in den letzten Jahren wohl etwas zugenommen. Vielfach sind diese Parteien aber auch nur ein Ventil für Protest. Gefährlich wird es, wenn die grossen Parteien sich unter dem Druck von rechts solche Positionen zu eigen machen. Noch scheint mir die Widerstandsfähigkeit der demokratischen Kräfte aber stark genug.

Auch der Antisemitismus ist wieder zurück.

Er war nie weg. Doch die Regeln des Sagbaren haben sich verschoben. Die Möglichkeit, antisemitische, rassistische und sexistische Äusserungen zu publizieren, ist durchs Internet und die sozialen Medien enorm gewachsen. Doch auch hier regen sich Gegenkräfte.

Wächst Antisemitismus auch, weil die Zeitzeugen nach und nach sterben?

Ich glaube nicht. Der Holocaust ist im kulturellen Gedächtnis verankert. Breite Teile der Bevölkerung kennen die Katastrophengeschichte vor 1945. Entscheidend ist vielmehr, wie die Gesellschaft mit diesen Erinnerungen umgeht, dass sie sie bewusst wach hält und ihre Lehren daraus zieht.

Genau das also, worunter die AfD in Deutschland gerne «einen Schlussstrich» ziehen würde.

Ja, aber jede Generation muss sich die Geschichte neu aneignen. Nur so bleibt das «Nie wieder»-Bewusstsein wach. Dagegen richtet sich die AfD. Und mit ihr ganze Nationalstaaten, in der EU insbesondere Ungarn und Polen, die sich aus ihrer historischen Verantwortung stehlen wollen. Doch die Vergangenheit vergeht nicht, davon bin ich überzeugt.

Immerhin scheint ein grosser Krieg in unserem Teil der Welt ausgeschlossen. Da hat sich also schon was fundamental verändert, oder?

Das dachte man vor 1914 auch schon – dazu schienen die Vorteile der wirtschaftlichen Vernetzung rund um den Globus viel zu gross. Auch der wissenschaftlich-technische Fortschrittsglaube stärkte das Vertrauen in den Weltfrieden. Es kam bekanntlich anders. Viereinhalb Jahre lang starben im Schnitt über 6000 Menschen pro Tag auf den Schlachtfeldern, dazu kamen eine ähnlich hohe Zahl von Toten unter der Zivilbevölkerung. Ein zentraler Unterschied zu damals sind die Massenvernichtungswaffen: Würden heute die mächtigsten Länder unter Aufbietung all ihrer Kräfte gegeneinander Krieg führen, wäre der Planet anschliessend unbewohnbar. Und weil dies allen klar ist, sind die Hürden für eine solche Eskalation hoch. Doch auch heute gibt es viele Ungewissheiten, und es ist nicht auszuschliessen, dass irgendwo eine Sicherung durchbrennt.

Ausserdem lassen sich Konflikte heute auch anders führen, etwa mit Wirtschaftssanktionen, Zölle oder Cyberattacken.

Ja, das sind neue Konfliktformen, in die so ziemlich alle grösseren Staaten bereits involviert sind. Cyberangriffe sind besonders niedrigschwellig und bieten viele Möglichkeiten für eine asymmetrische Kriegführung. Dessen extremste Stufe, dass nämlich ein Land einem anderen die ganze Infrastruktur abschaltet, ist bisher noch nicht eingetreten. Man stelle sich vor: ganze Regionen auf einen Schlag ohne Strom, Wasser oder Internet. Die Existenz solcher alternativer Konfliktformen mag das Risiko eines klassischen Kriegs senken, aber ein guter Trost ist das nicht.

Verglichen mit dem 8. Mai 1945 steht Europa heute gut da, gehört zu den lebenswertesten und komfortabelsten Gegenden der Welt. Wird sich das bewahren lassen in einer zunehmend chaotischeren Welt, die mit Herausforderungen wie dem Klimawandel konfrontiert ist?

Auf den ersten Blick scheint Europa tatsächlich ein Vorbild, viele dieser Errungenschaften kamen jedoch nur auf Kosten anderer zustande. Weltweit sind Ressourcen und Lebenschancen sehr ungleich verteilt, und dank der globalen Kommunikationssysteme wissen das heute alle. Internationale Konzerne schaffen nicht nur Arbeitsplätze, sondern stabilisieren im Zusammenspiel mit korrupten schwachen Regierungen furchtbare Zustände in weniger entwickelten Ländern. Auch die Schweiz hat ihren Wohlstand nicht nur aus eigener Kraft erarbeitet, sondern profitiert von der internationalen Arbeitsteilung und von ihrer Stellung als Steuerparadies. Sie verursacht dabei auch erhebliche Klimaschäden und erschwert die Finanzierung strukturschwacher Staaten. Man darf sich also nicht wundern, wenn gerade die besser ausgebildeten Menschen in besonders stark betroffenen Ländern auf die Idee kommen, lieber bei uns zu leben. Die paradoxe Mischung aus lukrativem «Brain gain» und fremdenfeindlichen Verlustängsten, mit der viele wirtschaftlich entwickelte Nationalstaaten auf die Zuwanderung reagieren, wird nicht so rasch verschwinden. Angesichts einer sich verschärfenden ökologischen Problematik stellt sich tatsächlich die Frage, ob der Status Quo in Europa aufrecht erhalten werden kann.

Das Ziel müsste sein, dabei zumindest weniger Schaden anzurichten. Was kann die Schweiz dazu beitragen?

Dazu bräuchte es globale Regeln, die von internationalen Institutionen auch tatsächlich durchgesetzt werden können. Würde sich die Schweiz dafür starkmachen, wäre sie nicht mehr nur Teil des Problems, sondern könnte Teil der Lösung werden.

 

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