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Digitale Nomadin

Mit dem Job auf Reisen

Anina Torrado hat kein festes Zuhause und kein Büro. Ihr Besitz passt in zwei Rucksäcke. Damit reist die digitale Nomadin von Stadt zu Stadt, um zu arbeiten.

Text Benita Vogel
Fotos Anna-Tina Eberhard
Datum
Anina Torrado

An der Balkendecke hängen Lüftungsrohre und Leuchtelemente. Vor dem Sichtmauerwerk steht ein braunes Ledersofa. Dahinter reiht sich Holztisch an Holztisch – jeder mit einem Bildschirm auf der Platte. Anina Torrado (41) ist morgens um 7 Uhr die erste Kundin im Co-Working-Space Semilla in Medellín (Kolumbien). Kaum hat sie sich an einem der Tische eingerichtet, wird ihr ein Cappuccino serviert – ohne dass sie ihn bestellt hätte. In der kolumbianischen Bürogemeinschaft kennt man die Vorlieben der Frühaufsteherin aus der Schweiz. «Das gefällt mir», sagt die Ostschweizerin, «es gibt mir das Gefühl dazuzugehören.»

Anina Torrado ist digitale Nomadin. Sie reist von Stadt zu Stadt, bleibt jeweils einige Monate; lebt in Wohnungen, die sie über Airbnb mietet, und arbeitet meist in Co-Working-Spaces oder Cafés. Ihre Kunden sitzen in der Schweiz – etwa das Migros-Kulturprozent: Bei sozialen Projekten verantwortet sie im Mandatsverhältnis die Kommunikation. Die Bewegung moderner Weltenbummler stammt aus den USA und hat mit wachsender Bedeutung der digitalen Kommunikationsmittel Zulauf erhalten. Sie leben einige Wochen oder Monate in Kapstadt, Lissabon, Chiang Mai oder Mexiko City und arbeiten für ihre Kunden auf der ganzen Welt, um bald weiterzuziehen – etwa nach Medellín.

Trainoffice in Japan

Dezember 2017 Japan. Auch im Zug kann Torrado gut arbeiten: hier in Kyoto, einem von 12 Aufenthaltsorten, an denen sie während des Remote Years gelebt hat.

Per Skype ans Team-Kaffee

Für die Ostschweizerin hat alles vor drei Jahren begonnen. Damals leitete sie eine Kommunikationsabteilung der Bank Raiffeisen und verspürte Reiselust, wie schon  oft in ihrem Leben. Als sie ihren Chef fragte, ob sie ein bis zwei Monate «von unterwegs» arbeiten könne, sagte dieser: klar – aber sie solle doch ein ganzes Jahr auf Achse bleiben.

Die Kommunikationsexpertin schloss sich Remote Year an, einem Unternehmen, das arbeitenden Weltenbummlern die Aufenthalte im Ausland mitorganisiert. Sie reiste 12 Monate von Südamerika über Europa nach Asien und arbeitete in 12 Städten. Mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu Hause kommunizierte sie mit Mail, Skype, Telefon oder dem Kommunikationsdienst Slack. In Sitzungen schaltete sie sich per Video ein. Selbst beim wöchentlichen Team-Kaffee trank sie am anderen Ende der Welt mit – einfach virtuell. «Anfänglich war das etwas fremd, wurde aber rasch zur schönen Gewohnheit», sagt sie. Die geografische Distanz habe gar keine Rolle mehr gespielt.

Rainbow Mountains in Peru

April 2018 Peru. Während der Woche wird gearbeitet, am Wochenende bleibt genug Zeit für ­Aus­flüge, etwa in die Rainbow Mountains in Cuzco.

Nach einem Jahr der «Wanderarbeit» konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, in einem festen Büro in St. Gallen tätig zu sein. «Zu reisen macht mich glücklich und es inspiriert mich», sagt sie. «Ich treffe spannende Berufsleute aus der ganzen Welt und lerne viel über die Fähigkeiten der Zukunft.» Das käme auch ihren Kunden in der Schweiz zugute. Die neu gewonnene Freiheit, selbst zu bestimmen, wo sie wann welche Projekte umsetzt, wollte sie nicht mehr aufgeben. An die Schweiz gebunden war die Globetrotterin nicht. «Alle um mich herum haben nach und nach Familien gegründet – das war nicht das Leben, das ich für mich vorsah.»

So wurde sie von der Probe- zur Profi-Nomadin und arbeitete seither in Brasilien, Peru, Kolumbien, Mexiko, Südafrika, Albanien, Griechenland, Italien, Kuba – und zwischendurch immer mal wieder ein paar Monate in der Schweiz. Die Stelle bei der Bank hat sie gekündigt, weil sie gespürt habe, dass jetzt der Moment sei, sich selbständig zu machen. Die Freiheit und Selbstbestimmung, die sie seither hat, seien fantastisch, so die Unternehmerin.

Anina Torrado in Kapstatt

November 2018 Südafrika. Kapstadt ist ein ­beliebtes ­Mekka für digitale Nomaden. Nach der Arbeit geht's auf den Lion’s Head (im Bild) oder an den Strand.

15 Kilo im Rucksack

Wer nun den Eindruck gewinnt, Anina Torrado führe das Leben einer Jetsetterin und «schäffele» ein wenig nebenher, täuscht sich. «Ich bin ja nicht in den Ferien, ich muss Geld für meinen Lebensunterhalt verdienen.» Man müsse Disziplin haben. Wenn die Kunden in der Schweiz etwas Dringendes besprechen wollen, kann es aufgrund der Zeitverschiebung sein, dass sie sich mitten in der Nacht in eine Telefonkonferenz einwählt. «Deshalb halte ich mich an einen rigiden Plan und gehe um 7 Uhr ins Büro – auch wenn ich dann allein dort bin.»

Unterwegs ist Anina Torrado mit zwei Rucksäcken: einem grossen mit 15 Kilo für Kleider und Toilettenartikel und einem kleinen mit etwa drei Kilo für ihr «mobiles Büro». Den restlichen Besitz – Kleider oder Erinnerungsstücke – hat sie in zehn Umzugskisten im Estrich der Eltern in Appenzell eingelagert. Dort befindet sich auch ihr Wohn- und Firmensitz. Wenn sie in der Schweiz weilt, wohnt sie dort, bei Freunden in einer WG oder hütet auch mal ein Haus.

Albanien Berat

August 2019 Albanien. Im Bergdorf Berat stösst Torrado auf ­einen zwar kleinen, aber ­aufstrebenden Aufenthaltsort für flexibel ­Arbeitende.

«Kein eigenes Zuhause zu haben, kann manchmal schwierig sein», sagt sie, «das ist der Preis, den man für die Freiheit bezahlt.» Auch das Alleinsein sei eine Herausforderung. «Mit sich selber Kaffee zu trinken, ist nicht jedermanns Sache. Das muss man aushalten können.» Sie sei auch schon auf einem Platz in der peruanischen Hauptstadt Lima gestanden und habe geweint, weil sie keine Menschenseele kannte. Gegen die gelegentliche Einsamkeit helfe Ablenkung: «Ich suche dann aktiv Kontakt, gehe an Veranstaltungen in Co-Working-Spaces, mache Stadtspaziergänge, Yoga oder melde mich für Freiwilligenarbeit. Und wenn es ganz schlimm sei, rufe sie gute Freunde oder die Eltern in der Schweiz an.

Teil des lokalen Lebens werden

Auch Routine ist wichtig. Gleich zu Beginn eines Aufenthalts sucht sie jeweils ein Stammcafé, wo das Personal und die Umgebung sympathisch sind. «So werde ich Teil des lokalen Lebens, gehöre dazu und bin keine Touristin mehr.» An Orten wie Medellín oder in der kubanischen Hauptstadt Havanna, wo sie immer wieder hinreist, habe sie inzwischen enge Freunde gefunden. «Von diesen Begegnungen und Erlebnissen zehre ich.» Diese Momente hätten viel mehr Wert als materielle Dinge, die man eigentlich alle gar nicht benötige. «Seit ich als digitale Nomadin durch die Welt tingle, lebe ich viel stärker im Jetzt, im Moment.» Das bereichere ihr Leben: «Ich mache mir nicht ständig Gedanken um die Zukunft.»

Coworking Space in Medellin, Kolumbien

Dezember 2019 Kolumbien. Anina Torrado kommt immer ­wieder nach Medellín zurück, sie hat total mehr als ein Jahr in der Stadt verbracht.

Ganz auf Planung verzichten kann sie trotzdem nicht. «Ich plane meine Route so, dass ich nicht mehr fliege als eine Durchschnittsschweizerin.» Deshalb bleibe sie auch länger auf dem gleichen Kontinent. Im Frühjahr wird sie für einige Monate aus Südamerika in die Schweiz zurückkehren – und sich hier zum ersten Mal seit drei Jahren eine Art Hub einrichten. «Ich möchte nun doch einen Ort haben, wohin ich jederzeit zurückkehren kann, wann ich will», sagt die Weltenbummlerin.

Sesshaft zu werden, kommt jedoch noch immer nicht infrage. Für die nächste Reise hat sie denn auch bereits einen Plan: «Dieses Jahr steht Europa auf dem Programm.»

Anina Torrado in einem Kaffee

Zuerst rechtliche Fragen klären

Die Community der digitalen Nomaden wächst weltweit. Die Bewegung entstand in den USA, wo viele Leute «Remote Worker» sind. Das heisst: Sie arbeiten im Home Office. In der Schweiz organisiert sich die Community im Verein Digitale Nomaden Schweiz (www.migmag.ch/nomaden). Jährlich führen sie eine Konferenz durch.

Das digitale Nomadentum bringt neue, rechtlich oft noch ungeklärte Fragen mit sich. Wer den offiziellen Wohn- und Firmensitz weiterhin in der Schweiz behält, geniesst den gleichen Schutz, hat aber auch die gleichen Pflichten. Es lohnt sich, sein Lebens- und Arbeitsmodell genau durchzudenken und bei Fragen das Gespräch mit den Behörden zu suchen.

In anderen Ländern dürfte man streng genommen nicht ohne Bewilligung arbeiten, doch da die Kunden in der Regel im Heimatland ansässig sind, werden digitale Nomaden meist toleriert. Länder wie Deutschland, Estland oder Mexiko haben das grosse Potenzial erkannt und ein Digital Nomad Visum eingeführt: www.migmag.ch/visum

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