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Divisionär Germaine Seewer

«Eine muss halt die Erste sein»

Germaine Seewer ist die erste Divisionärin der Schweizer Armee. Sie schaut auf die Teilmobilmachung zurück und reagiert mit einem Lachen auf die Frage, ob sie gar noch Armeechefin werde.

Text Marc Zollinger
Fotos Herbert Zimmermann
Datum
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Für Germaine Josephine Françoise Seewer (56) hat der Lockdown in der Arbeitswelt und im Zwischenmenschlichen viel verändert.

Seit dem 1. Januar ist sie Divisionär. Ja, richtig gelesen: Die männliche Berufsbezeichnung wird geschlechtsneutral verwendet. So bevorzugt es auch Germaine Seewer selbst. Die 56-Jährige ist die erste Frau, die im Schweizer Militär in den zweithöchsten Rang berufen wurde. Wie für alle wichtigen Amtsträger galt auch für sie die 100-Tage-Schonzeit, während der sie keine Interviews zu geben hatte. Ausgerechnet in diese Zeit fiel die grösste gesellschaftliche Krise der Nachkriegszeit. «Ich habe mir das auch ganz anders vorgestellt», sagt Divisionär Seewer. Sie steht mit zum Knoten gebundenen Haaren an einem Stehpult in ihrem Luzerner Büro und lächelt in den Bildschirm. Das Gespräch findet wegen der Umstände bloss virtuell statt. Der Walliser Dialekt hingegen erklingt ungefiltert: «Isch güet!», sagt sie.

Germaine Seewer, wie haben Sie die vergangenen Wochen erlebt?
Es war eine intensive Zeit. Verbunden mit der Sorge um meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um die Teilnehmenden der Kurse, die wir gerade am Laufen hatten, und natürlich auch um meine eigene Familie.

Als Mensch, der den direkten Kontakt schätzt, war es gewiss nicht einfach.
Man hat gezwungenermassen gelernt, anders zu arbeiten. Der persönliche Kontakt wurde eben zurückgesteckt. Andere Kommunikationstechniken, wie jetzt gerade mit Ihnen, standen im Vordergrund. Wir haben uns an die Vorschriften gehalten, die uns das Bundesamt für Gesundheit gegeben hat.

Haben Sie sich auch um ihr eigene Gesundheit Sorgen gemacht?
Das nicht. Ich habe mich aber natürlich sehr gut informiert. Die Sorge war mehr eine um die ganze Institution. Ich habe da gewiss das eine oder andere Telefonat mehr geführt, einfach um sicher zu sein, dass es den Leuten gut geht. Letztlich war es für alle eine Frage der Disziplin. Man musste aufpassen, dass man nicht alten Verhaltensmustern folgt – etwa Hände schütteln. So gesehen war es ein Moment, der wach gemacht hat.

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Hat sich die Bedrohungslage für die «sichere Insel Schweiz» geändert?
Was wir mit Sicherheit sagen können: Die Teilmobilmachung der Armee hat sich bewährt. Die Schweiz hat ein Instrument zur Verfügung, das uns eine sehr schnelle Reaktion ermöglicht.

Teilen Sie die Ansicht, dass sich die Welt in dieser Zeit verändert hat?
Auf einer zwischenmenschlichen Ebene ganz gewiss. Auch in der Arbeitswelt wird es Änderungen geben. Ist ein Grossraumbüro noch das Richtige? Von den wirtschaftlichen Folgen müssen wir gar nicht sprechen. Und ja, es hat etwas ins Bewusstsein geholt: Es kann auch uns treffen! Nichts ist selbstverständlich.

Können Sie Ihren typischen Arbeitstag beschreiben?
Das Typische an diesem Tag ist, dass es nichts Typisches gibt. Tatsächlich ist die einzige Konstante meiner Arbeitswoche, dass ich sie jeden Montag in Bern beginne, und zwar mit einer Besprechung mit meinem Vorgesetzten Hans-Peter Walser, Korpskommandant und Chef des Kommandos Ausbildung. Danach fahre ich nach Luzern, wo es eben die unterschiedlichsten Dinge zu erledigen gibt.

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Wann haben Sie das Gespräch mit dem Chef?
Um 7.30 Uhr. Für mich fängt der Tag also bereits ein bisschen früher an.

Weil Sie mit dem Zug aus dem Wallis nach Bern fahren? Oder ist die Frage zu privat?
(lacht) Nein, das dürfen Sie fragen. Ich reise tatsächlich aus dem Wallis an. Deshalb können Sie sich sicher vorstellen, dass ich nicht erst um fünf nach sieben aus dem Bett steige.

Was genau ist Ihre Aufgabe?
An der Höheren Kaderausbildung der Armee bin ich zusammen mit rund 220 Mitarbeitenden verantwortlich für zwei Bereiche: erstens für die Ausbildung des Berufsmilitärs in der Armee, also die Berufsoffiziere und -unteroffiziere, und zweitens für die Höhere Kaderausbildung. Wir bilden also die Leader von morgen aus.

 

Germaine Seewer ist in Leuk aufgewachsen. Die Walliserin studierte an der ETH Zürich Chemie und doktorierte am Institut für Nutztierwissenschaften. Ihre Dissertation schrieb sie über die Qualität von Schweinefleisch und Schweinefett. Danach arbeitete Seewer als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Nutztiere im freiburgischen Posieux. Im Alter von 34 Jahren wechselte sie ins Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS). 2013 wurde sie Chef Personelles der Armee und 2018 Kommandant der Führungsunterstützungsbrigade 41. Wenn Germaine Seewer gefragt wird, warum sie sich entschieden habe, freiwillig Militärdienst zu leisten, gibt sie immer die gleiche Antwort: «Ich bin in einem Umfeld und in einer Zeit aufgewachsen, in denen der Dienst an der Gemeinschaft eine Selbstverständlichkeit war.»

 

Sie sind sozusagen die Oberlehrerin des Militärs. Ihr Kindheitstraum Lehrerin hat sich also erfüllt?
Sagen wir es lieber so: Ich bin Rektor der militärischen Ausbildung.

Und sind Sie mit dem Nachwuchs zufrieden? Man hört, die richtigen Leute zum «Weitermachen» zu motivieren sei nicht immer einfach.
Ich bin absolut überzeugt, dass wir die richtigen Leute haben. Das hat sich gerade in den vergangenen Wochen und Monaten in der Coronakrise bestätigt. Die Führungstätigkeiten waren aufgrund der speziellen Situation sehr anspruchsvoll. Zum Beispiel weil unsere Armeeangehörigen über Wochen nicht nach Hause konnten. Da mussten durch die Kader rasch kreative Lösungen gesucht werden, und die haben sie auch gefunden.

Sie waren erst die vierte Frau*, die den Rang eines Brigadiers einnahm. Heute sind Sie die erste Divisionärin. Was bedeutet Ihnen das?
Für mich persönlich ist es nichts Spezielles. Eine muss halt die Erste sein. Und das bin jetzt eben ich.

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Ist es möglich, dass Sie auch die erste Armeechefin sein werden?
(lacht)

Sie lachen und schweigen?
Schauen Sie: Ich gehe jeden Tag arbeiten und versuche jeden Tag, mein Bestes zu geben.

Spricht man Sie auf der Strasse an?
Es gibt immer wieder Bemerkungen. Viele freuen sich, andere sind vielleicht überrascht: «Oh, hast du gesehen, eine Frau in Uniform!» Das gehört zum beruflichen Alltag. Aber es ist wohl auch eher unsere Generation, die da Unterschiede macht. Bei den Jungen, die viel freier als wir aufgewachsen sind, ist so etwas selbstverständlich. Ich wünsche mir aber schon, dass noch mehr Frauen den Weg ins Militär finden.

Sind Sie für einen obligatorischen Militärdienst für Frauen?
Es ist nicht an mir, solche Dinge zu entscheiden. Das sind politische Diskussionen. Man muss auch schauen, wie die Gesellschaft mit solchen Fragen umgeht.

 

Bei Informationen zum Privatleben ist Germaine Seewer sehr zurückhaltend. Sie sagt nicht viel mehr als dies: «Ich bin im Wallis aufgewachsen, heimatverbunden und habe ein Umfeld gehabt, das mich getragen hat.» Als Ausgleich zu ihrer Arbeit zieht es Seewer nach draussen – in den Garten und in die Berge. Sie nimmt regelmässig am Gebirgslauf Patrouille des Glaciers teil. In einem Dreierteam mit zwei männlichen Kollegen legt sie eine Strecke von 53 Kilometern zurück, bei der Höhenunterschiede von rund 4000 Metern zu bewältigen sind. Träume wie in der Kindheit habe sie viele. «Wer keine hat, lebt nicht richtig», findet sie. Über den Inhalt schweigt sie sich aber aus. «Darf ich Sie etwas fragen?», kehrt Germaine Seewer am Ende des Gesprächs den Spiess um. Sie möchte wissen, wie es dem Journalisten während des Lockdowns ergangen ist. Wer Divisionär Seewer kennt, ist nicht überrascht von dieser Form von Anteilnahme.

 

Wie kann man den Wehrdienst attraktiver machen?
Indem wir an den Rahmenbedingungen arbeiten und den Menschen entgegenkommen. Dazu läuft bereits heute ein Programm namens «Progress»: ein sanfter Einstieg ins Soldatenleben mit stufenweise aufgebauten Belastungen. Zum Beispiel dürfen die Rekruten am Anfang die Märsche noch in Turnschuhen absolvieren. Und wir richten Hotspots für die mobile Kommunikation ein. Wir waren früher ja auch froh, wenn wir die Zeitung lesen konnten. Neu gibt es Jokertage, die der Rekrut beziehen kann. Oder Ausbildungsgutschriften: Wer sich nach der Rekrutenschule weiter verpflichtet, erhält einen bestimmten Betrag auf einem virtuellen Konto, den er für seine zivile Ausbildung einsetzen kann. Es gibt noch viele weitere Elemente. Wie andere Institutionen versuchen auch wir, immer dazuzulernen.

Eins ist sicher: Die gegenwärtig herrschende grosse Verunsicherung führt zu einer Stärkung der Armee.
Die ETH Zürich führt jedes Jahr die «Studie Sicherheit» durch. In der neuesten Studie halten 79 Prozent der Befragten die Armee für nötig. Die Zustimmung ist tatsächlich gross. Ob und wie sich die aktuelle Krise darauf auswirken wird, sehen wir dann nächstes Jahr.

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Die SRF-Sendung «Echo der Zeit» begleitete Germaine Seewer 2019, damals war sie noch Brigadier, bei einem Truppenbesuch.

*In einer früheren Version und in der Printausgabe des Migros-Magazins haben wir geschrieben, dass Germaine Seewer die erste Frau im Rang eines Brigadiers in der Schweizer Armee war. Mehrere Leser machten uns darauf aufmerksam, dass das nicht stimmt. Tatsächlich hatten mit Eugénie Pollak, Doris Portmann und Johanna Hurni schon vorher Frauen diesen Rang erreicht. Germaine Seewer ist hingegen die erste Frau, die als Höherer Stabsoffizier den genau gleichen Werdegang absolviert hat wie ihre männlichen Kollegen.

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