Navigation

Edition Unik

Viel zu erzählen

Die Berner Sozialarbeiterin Erika Kneubühl hat mit 36 Jahren genug erlebt, um ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Das hat sie nun in nur 17 Wochen geschafft – dank des Kulturprojekts Edition Unik.

Text Michael West
Fotos Raffael Waldner
Datum
buehnenbild

Erika Kneubühl sitzt in einem Café beim Berner Hauptbahnhof. Sie hat ein Buch dabei, das vor ihr auf dem runden Holztisch liegt. Das Stimmengewirr im Lokal ist ziemlich laut, Geschirr klappert, und ein Baby schreit. Doch wenn die 36-jährige Frau sich in den blassblauen Band vertieft, scheint sie den Lärm nicht mehr zu hören. Kein Wunder: Für sie ist es ein ganz besonderes Buch. Sie hat es selber geschrieben und darin ihr bisheriges Leben nacherzählt. 

Während manche Autoren jahrelang mit einem Stoff ringen, hat Kneubühl ihr Werk in nur 17 Wochen verfasst. Möglich wurde das dank intensiver Arbeit, einem dreiwöchigen Urlaub – und dem Programm Edition Unik. Es gibt den Schreibprojekten von Privatleuten einen fixen Zeitrahmen und unterstützt sie mit einer App, die zum Beispiel Tipps gegen Schreibblockaden gibt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer treffen sich auch mehrmals und erzählen einander von ihren Erfahrungen. Viele von ihnen sind Senioren, die in einem Buch auf ihr Leben zurückblicken wollen.

Viele Hürden überwunden

Doch warum wollte Kneubühl in noch jungen Jahren schon ihre Lebensgeschichte aufschreiben? «Ich hatte das Gefühl am Ende eines wichtigen Abschnitts zu stehen. Ich wollte mir über diesen Teil meines Lebens Klarheit verschaffen», sagt sie. Sie hat sich in dem 290 Seiten starken Band intensiv mit ihrer Herkunft auseinandergesetzt. Der Titel auf dem Buchdeckel lautet denn auch: «Die Wurzeln, die bleiben».

Die heutige Sozialarbeiterin ist in einem Emmentaler Dorf in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen. «Meine Eltern waren fürsorglich und taten ihr Bestes für mich und meine beiden Geschwister», erinnert sie sich. «Aber sie konnten sich kaum vorstellen, dass eines ihrer Kinder in Zukunft einen anderen beruflichen Weg gehen wollte.»

Doch schon mit zwölf Jahren empfand Erika Kneubühl den überwältigenden Wunsch, später einmal ein ganz anderes Leben als ihre Eltern zu führen. «Ich bewunderte Ärzte und überhaupt alle Leute, die einen grossen Schatz an Schulwissen hatten und damit anderen Menschen helfen konnten.»

portrait

Vom Arbeiterkind zur Sozialarbeiterin: Erika Kneubühl wollte einen wichtigen Lebensabschnitt zu Papier bringen.

Mit eiserner Disziplin

In ihrem Buch schildert Kneubühl den verschlungenen Weg, der sie aus dem Dorf ihrer Kindheit in die Stadt Bern und in einen akademischen Beruf führte: Sie besuchte die Realschule, machte eine Lehre im Detailhandel, strebte danach mit eiserner Disziplin die Berufsmatura an. «Ich spürte damals ganz stark, wie ungleich die Chancen der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz sind», sagt sie. «Meine Eltern konnten mir beim Lernen für die Matura nicht helfen. Es kam mir manchmal so vor, als müsse ich viel mehr Hürden überwinden als andere Gleichaltrige.»

Ihr Glück war, dass sie zu dieser Zeit als private Kinderbetreuerin in einer ganzen Reihe von Familien arbeitete. «Ich erlebte so vollkommen verschiedene Milieus, hatte Einblick in die Haushalte von Bauern, Handwerkern und Akademikern. Ich gehe gern auf andere Menschen zu und konnte mir darum in jeder Familie ein anderes Stück Wissen holen.» Eine der Mütter war zum Beispiel Übersetzerin und half ihr bei den Französischaufgaben.

Endlich am Ziel angekommen

Nach der Matura und ihrem vierjährigen Studium kam Kneubühl an dem Ziel an, von dem sie schon als Kind geträumt hatte: Heute steht sie als Sozialarbeiterin benachteiligten Menschen mit ihrem Fachwissen bei. In ihrem Buch geht es aber weniger um ihre jetzige Arbeit, als um die vielen Hürden auf dem Weg zu diesem Ziel: «Ich hatte oft das Gefühl, gegen unsichtbare Mauern anzurennen, weil ich aus einer weniger privilegierten Familie stamme.» Ausserdem betont sie, dass sie sich ihren Eltern noch immer stark verbunden fühlt, obwohl sie die dörfliche Welt schon in ihrer Kindheit oft als beengend empfunden hatte.

Erschienen sind diese Erinnerungen nun in einer Auflage von nur zwei Exemplaren. Warum hat Erika Kneubühl nicht mehr Bände drucken lassen, was im Rahmen des Projekts Edition Unik möglich gewesen wäre? «Ich habe das Buch vor allem für mich geschrieben und zeige es nur einer sehr kleinen Gruppe von Freunden», erklärt die Bernerin. «Ich wollte mir selber Fragen zu meinem Leben beantworten und ein wichtiges Kapitel abschliessen.»

Doch weshalb musste der Text dann am Ende die Gestalt eines Buches annehmen? «Ein nur digitaler Text wäre mir zu flüchtig und wenig greifbar gewesen», sagt sie dazu. «Ein Buch kann ich anfassen; es ist ein wunderschöner Gegenstand, der die Zeit überdauern wird.»

collage

Die Bücher der Edition Unik sind aufwendig gestaltet, erscheinen aber oft nur in winzigen Auflagen.

So funktioniert Edition Unik

Viele Menschen möchten ihr Leben aufschreiben und als Buch in der Hand halten. An sie richtet sich das Non-Profit-Kulturprojekt Edition Unik. Mit Veranstaltungen in Zürich, Bern und Basel und mit einer speziellen App hilft es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, ihre Erinnerungen zu ordnen und zu Papier zu bringen. Im Preis von 550 Franken sind zwei Bücher enthalten. Gegen einen variablen Aufpreis kann man auch eine grössere Anzahl von Büchern anfertigen lassen.

Das Migros-Kulturprozent ist im Beirat von Edition Unik vertreten.

Weitere Infos: edition-unik.ch
 

Vom Leben erzählen

Wer lieber mündlich aus seinem Leben berichten möchte, sollte eins der Erzählcafés besuchen: In allen Landesteilen finden moderierte Gesprächsrunden in Restaurants, Kirchgemeindehäusern oder Gemeinschaftszentren statt. Alte und junge Menschen können hier ihre Lebenserfahrungen austauschen. Ermöglicht werden die Erzählcafés vom Migros-Kulturprozent. Es hat das Netzwerk zusammen mit der Fachhochschule Nordwestschweiz lanciert.

Weitere Infos: netzwerk-erzaehlcafe.ch

Schon gelesen?