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Fatale Mischung

Wie Raphi am Drogenmix beinahe zu Grunde ging

Die Todesfälle von Jugendlichen nach dem Konsum von Drogencocktails sorgen für Aufsehen. Auch Raphi* suchte mit einem Mix verschiedener Substanzen den besten Trip. Was Eltern dann tun können.

Text Benita Vogel, Ralf Kaminski, Yvette Hettinger
Datum
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Mit Bier, Wein und Wodka fing alles an. Die Sekundarschule eben begonnen, hing Raphi* an den Wochenenden mit den neuen Kumpels ab – und trank. Damals war er knapp 13. Mit 14 kiffte er zum ersten Mal. «Ein älterer Kollege fragte mich, ob ich Lust habe – klar hatte ich.» Er war neugierig und wollte es ausprobieren. Ähnlich war es mit dem Ecstasy-Wirkstoff MDMA, den er mit 15 zum ersten Mal probierte. Mit 16 begann er mit dem Halluzinogen LSD. Auch Beruhigungsmedikamente schluckte er. «Manchmal auch alles zusammen.»

Heute ist Raphi 17. Er spricht sehr offen über seinen Konsum und möchte deshalb anonym bleiben. «Alkohol, einige Joints und danach der härtere Stoff: So lief ein Abend mit meinen Kollegen ab.» Heineken, Sixnine oder Smileys hiessen die Pillen, die sie gerne schluckten.

«Am Anfang war das super. Es war eine Explosion von Farben, alles war unglaublich schön», sagt Raphi. Fünf, sechs Stunden dauerten die «MD-Trips», je nach Stärkeklasse der Pillen. Die Filz-Trips – LSD in Form von Papierstreifen – noch etwas länger. Einmal war er drei Tage lang «dauer-drauf». Die Eltern eines Kollegen waren verreist. Die Jungs hatten die Wohnung für sich. «Ich fühlte mich dank des Konsums unglaublich gut. Der Druck – vom Alltag, von der Lehrstellensuche, dem Erwachsenwerden –, einfach dieser ganze Stress, war weg.»

Raphi ist nicht «die Ausnahme»

Wie Raphi denken viele Jugendliche. «Psychoaktive Substanzen werden in der Schweiz und auf der ganzen Welt konsumiert», sagt Psychiater und Suchtmediziner Toni Berthel (67). «Jugendliche haben schon immer gewisse Mittel ausprobiert.» Zwischen 14 und knapp 16 Jahre alt sind Jugendliche im Schnitt, wenn sie zum ersten Mal Alkohol, Tabak oder Cannabis konsumieren. Der erste Konsum härterer Drogen findet im Schnitt mit 20 statt. Das zeigt eine Befragung der Koordinations- und Fachstelle Sucht Infodrog. «Lernen mit Risiken umzugehen, ist wichtig für eine gesunde Entwicklung. Aber es ist immer eine Frage des Masses», sagt Berthel.

Von Alkohol bis E-Zigarette

Drogentrends der vergangenen Jahrzehnte

Alkohol
Älteste in Europa verbreitete Droge und Schweizer Volksdroge Nr. 1 – konsumiert von 87 % der Männer und 77 % der Frauen. Neueres Phänomen unter Jugendlichen: Rauschtrinken. Jährlich ca. 1600 alkoholbedingte Todesfälle.

Nikotin
Bis in die 80er-Jahre galten Zigaretten noch als cool, das ist vorbei. Aber auch 2017 noch rauchten 27,1 % der Schweizer Bevölkerung. Trends: seit 2011 selbstgerollte Zigaretten, seit 2013 E-Zigaretten, E-Shishas und seit 2017 Zigaretten mit CBD-Zusatz.

LSD
Bewusstseinserweiternde Droge, 1943 von dem Schweizer Chemiker Albert Hofmann entdeckt. Höhepunkt des Konsums in den 60er-Jahren, besonders in Hippie- und Musikerkreisen. Aktuelles Phänomen ist das «Microdosing»: Kleinstmengen, in IT- oder Künstlerkreisen zur «kreativen Leistungssteigerung» konsumiert.

Cannabis
Seit den 60er-Jahren bei Hippies und Studenten in. Heute in der Schweiz die am häufigsten genutzte illegale Droge. 2016 gaben 7,3 % der Befragten an, sie in den 12 Monaten davor konsumiert zu haben.

Heroin
Verbreitete sich ab den 70er-Jahren durch die Jugendszenen. Weltberühmt die offene Schweizer Drogenszene am Zürcher Platzspitz bis 1992. Heute sind ca. 0,7 % der Bevölkerung Langzeitkonsumenten.

Kokain
Breitet sich seit den 80er-Jahren aus. Ca. 0,7 % der Bevölkerung konsumieren es, besonders an Samstagen, wie Abwasserproben zeigen.

Ecstasy (MDMA)
Seit den 90er-Jahren eine populäre Partydroge. Etwa 0,5 % der Bevölkerung konsumieren sie, meist am Wochenende.

Ritalin
Ursprünglich zur Behandlung von ADHS entwickelt, seit der Jahrtausendwende bei Studierenden beliebt zur geistigen Leistungssteigerung.

CBD
Legale Produkte seit 2016 erhältlich. Seit Anfang 2020 massive Zunahme an «CBD-Gras», das mit gefährlichen synthetischen Cannabinoiden versetzt und als illegales Gras verkauft wird.

Codein
Via Hustensäfte seit Längerem in der Drogenszene sowie in den vergangenen Jahren in Jugendsubkulturen verbreitet, oft als Mix mit Getränken («Purple Drank»).

Soft-Enhancer
Viele Teenager konsumieren diverse Substanzen, um wach zu bleiben oder sich besser konzentrieren zu können: Energy Drinks, Kaffee, Tabak, Vitamine oder pflanzliche Beruhigungsmittel.


Quellen: BAG, Sucht Schweiz, Drogeninformationszentrum Zürich. Viele Zahlen beruhen auf Schätzungen und Umfragen – bei Letzteren muss damit gerechnet werden, dass die Antworten nicht immer ehrlich sind.

«Man scheisst aufs Leben»

Ans Risiko dachten Raphi und seine Kollegen jeweils nur kurz, bevor sie etwas Neues ausprobierten. «Wir haben uns schon informiert, wie gefährlich etwas sein könnte.» Aber am Ende zählte nur der Rausch. «Wir wollten einen guten Abend, den besten Trip. Alles andere zählt in diesem Moment nicht.»

Ein anderer Jugendlicher, der verschiedene Szenen in Schweizer Städten kennt, berichtet Ähnliches. «Wenn man sich vollballern will, scheisst man aufs Leben», sagt er.

Gefährlicher Mischkonsum

Problematisch ist in diesem Zusammenhang laut Experte Berthel der Mischkonsum, der in den vergangenen Jahren aufgekommen ist.

«Der Mix von Alkohol, härteren Drogen und immer mehr auch Medikamenten ist wegen der Wechselwirkung der Substanzen hochgefährlich», sagt Corina Salis Gross, Forschungsleiterin des Schweizer Instituts für Sucht- und Gesundheitsforschung. Alkohol beispielsweise wirkt dämpfend, gewisse Medikamente auch. «Das kann für das Atemzentrum rasch zu viel sein. Man hört auf zu atmen, ohne es zu merken», so Salis Gross. Die Todesfälle von Jugendlichen in Basel, Luzern und Zollikerberg ZH in den vergangenen Monaten waren wohl die Folge solcher Drogencocktails.

Xanax für Rapper

Besonders problematisch sind laut Salis Gross psychoaktive Medikamente. Der Stoff der Stunde heisst Benzodiazepine, kurz Benzos. In der Rap- und Hip-Hop-Szene wird vor allem der Angstblocker Xanax als Lifestyle-Gadget verherrlicht. Von Xanny und Xans wird da gesungen. Weil sie verschreibungspflichtig sind, gelten solche Medikamente als sicher, sozial akzeptiert und unproblematisch. «Diese Fehleinschätzung steht in drastischem Gegensatz zur gefährlichen Wechselwirkung, die sie auslösen können, und der raschen Abhängigkeit, die man entwickelt», sagt Salis Gross.

Wie viele Jugendliche Medikamente zur Berauschung schlucken, ist nicht bekannt. Gemäss einer Befragung von Sucht Schweiz sind es gut 4 Prozent der 11- bis 15-Jährigen. Dies bedeutet bei den männlichen Jugendlichen eine deutliche Zunahme gegenüber den Vorjahren.

Wie ist Raphis Erfahrung mit Xanax?

Auch Raphi hat Xanax geschluckt. Einmal sogar das sedierende Schmerzmittel Fentanyl, das normalerweise bei Narkosen verwendet wird. «Nach einer Tablette Xanax habe ich nichts gespürt und sie deshalb mit Alkohol gemischt.» Danach habe er gar nichts mehr gerafft. «Ich fühlte mich wie ein müder Zombie und lallte nur noch. Das war gar nicht gut.» Den Stoff zu kriegen, war kein Problem. Bezugsquellen gibt es nicht nur im Clear-und Darknet. «Am Anfang haben uns ältere Geschwister versorgt», sagt Raphi. Auch Kolleginnen und Kollegen dienten als Bezugsquellen – und verschiedene Dealer. «Jeder kennt einen. Die gibt es auch an der Schule.»

Er selbst habe auch eine Zeit lang gedealt, nachdem er seine erste Lehre abgebrochen habe. «Nach der Schule war die Arbeitswelt ein Kulturschock. Ich wollte lieber das Leben geniessen.» Um sich besser zu fühlen, brauchte er aber mit der Zeit immer mehr Drogen.

Immer öfter – immer mehr

Die vielen Endorphin- und Dopamin-Exzesse lösten depressive Verstimmungen bei ihm aus. «Ich wurde sehr traurig, war in einem Loch und konnte mich an nichts mehr freuen.» Er habe stark abgenommen und sich geritzt. «Nur die Drogen brachten kurze Glücksgefühle.»

Die Spirale drehte sich abwärts – bis zum Wochenende mit dem Candy Flip. Da nahmen er und seine beiden Kumpels abends erst einen «Regenbogen», wie sie LSD nannten, und nachts «MDs». «Wir spickten 20 Teile zu dritt.» Nach den ersten drei Pillen habe er nichts gespürt, deshalb schluckte er mehr. «Ich lag nur am Boden, spürte meinen Körper nicht mehr und konnte mich nicht mehr bewegen. Es war, als ob die Stunden zu Tagen wurden. Das Leben war mir so scheissegal.» Dieses Gefühl habe bis in den nächsten Tag hinein gedauert.

«Das war für mich ein Wendepunkt. Ich wollte nicht mehr, dass es mir so scheisse geht.» Der Ausstieg habe eben erst begonnen und sei hart. Die Trennung von bestimmten Personen habe geholfen. Auch dass seine Kollegen mithelfen. Und die neue Lehre, die er im Sommer begonnen hat. «Ich habe mit meinem Lehrmeister eine Abmachung.»

Vom Tiefpunkt zurück nach oben

Raphi besucht regelmässig die Suchtberatung. «Ich habe mit Workouts und Boxen angefangen, um meinen Körper wieder zu spüren.» Er setzt sich Wochenziele, in der Schule, bei der Arbeit oder im Sport, um zu lernen, wieder Freude an kleinen Dingen zu haben.

Für Suchtexperte Toni Berthel zeigt Raphis Geschichte, dass es wichtig ist, in den Jugendlichen ein Gefahrenbewusstsein zu wecken und sie zur Selbststeuerung zu befähigen. «Sie brauchen in der temporeichen Leistungsgesellschaft Risiko- und ganz wichtig auch Entspannungskompetenz» (siehe Box unten). Die Forschungsleiterin des Schweizer Instituts für Sucht- und Gesundheitsforschung Corina Salis Gross hat wegen Geschichten wie diejenige von Raphi ein Forschungsprojekt erarbeitet und eingereicht, zusammen mit der Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs und Infodrog. «Wir brauchen bessere Daten, um die Prävention auf den problematischen Medikamentenkonsum abstimmen zu können», sagt sie.

Raphi hat seine Geschichte auch seinem kleinen Bruder erzählt. «Damit er es mir hoffentlich nicht nachmacht.»

*Name der Redaktion bekannt

Leitfaden für Eltern

Wie Eltern ihre Kinder sensibilisieren können

Information
Versichern Sie sich, dass Ihr Kind um die Risiken weiss, die der Konsum von Medikamenten bergen kann. Sie sind zwar Heilmittel, aber deswegen nicht harmlos; Mischkonsum (mit Alkohol, anderen Medikamenten oder Substanzen) ist besonders gefährlich. Tun Sie das möglichst unaufgeregt und im Dialog. Die allfälligen Folgen, wenn Sie dieses Thema nicht ansprechen, sind problematischer als das Risiko, damit erst recht Neugier zu wecken. Denken Sie daran, mit Ihrem Kind auch darüber zu sprechen, wie es ihm allgemein geht, und Ihr Interesse an seinem Leben und Wohlbefinden zu signalisieren: Wie geht es ihm? Hat es Sorgen? Wie läuft es mit den Freunden?

Vorbild sein
Gehen Sie selbst verantwortungsbewusst mit Medikamenten um. Erklären Sie auch kleinen Kindern, dass man Heilmittel achtsam und nur wenn nötig einnehmen sollte. Geben Sie Ihrem Kind verschreibungspflichtige Medikamente nie selbst – nur nach Konsultation eines Arztes/einer Ärztin. Bewahren Sie Medikamente ausser Reichweite von Kindern auf.

Eigene Haltung klar kommunizieren
Egal ob es um Alkohol, andere Drogen oder Medikamentenkonsum geht mit dem Ziel, sich zu berauschen: Ihre Haltung ist wichtig. Kein Konsum ist das Ziel, bei Alkohol liegt ab 16 Jahren ein gelegentlicher, massvoller Konsum drin.

Da sein und begleiten
Ist Ihr Kind neugierig? Richtet sich die Neugier auf altersentsprechende Dinge? Ist sie mit Dingen verbunden, die Risiken bergen, etwa Alkohol, andere Drogen und Medikamentenkonsum? Bewegt sich Ihr Kind in einem Freundeskreis, der risikoaffin ist? Hört es Musik, die den Konsum von Medikamenten oder anderen Substanzen idealisiert? Sprechen Sie mit Ihrem Kind über den möglichen Einfluss von Freunden oder Prominenten.

Andere Risikogelegenheiten schaffen
Jugendliche gehen Risiken ein, das ist für ihre Entwicklung normal und notwendig. Die Frage ist, welche Art Risiken das sind. Unterstützen Sie Ihr Kind dabei, unbekannte Dinge kennenzulernen und seine Neugier und Risikofreude in Kontexten auszuleben, die Lerngelegenheiten bieten – zum Beispiel im Sport, im künstlerischen Umfeld oder mit politischem Engagement. Wenn Ihr Kind problematische risikohafte Entscheide fällt: Versuchen Sie, Ruhe zu bewahren. Suchen Sie das Gespräch mit ihm. Und wenn das nicht hilft: Zögern Sie nicht, sich Unterstützung bei einer Fachstelle zu holen.

Weitere Infos: suchtschweiz.ch/eltern

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