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To-Good-To-Go-Chefin Lucie Rein

Vorkämpferin gegen Verschwendung

Lucie Rein hatte es satt, Lebensmittel wegzuwerfen, und gründete deshalb vor eineinhalb Jahren den Schweizer Ableger der Lebensmittel-App «Too Good To Go». Wie die junge Managerin die Umwelt retten will, und gegen welche Vorurteile sie zu kämpfen hatte.

Text Benita Vogel
Fotos Roger Hofstetter
Datum
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Sie packt ihre Thermoskanne aus der Tasche und faltet das hellblaue Bienenwachstuch auseinander. Bevor Lucie Rein einen Bissen von ihrem Käsesandwich nimmt, sagt sie: «Als Kind musste ich den Teller immer leer essen – Lebensmittel wegwerfen gab es nicht – so lautete die Regel.» Die Reste des Abendessens habe sie am nächsten Tag zum Frühstück serviert bekommen. Die 28-Jährige hält sich heute noch an die Maxime ihrer Eltern – sie hat sie zu ihrem Beruf gemacht.

Die junge Frau gründete im Sommer 2018 «Too Good To Go» in der Schweiz, eine Bewegung gegen Lebensmittelverschwendung – kurz Food-Waste – mit einer kostenlosen App, die nicht verkaufte Lebensmittel von den Produzenten und Händlern an die Konsumenten vermittelt (siehe unten). Seit der Gründung hat die Bewegung, wie sich die Firma nennt, 800 000 Mahlzeiten in der Schweiz vor der Mülltonne gerettet. Nun hat sich «Too Good To Go» auch in der Migros schweizweit etabliert (siehe Box unten). «Wir reiten auf der Nachhaltigkeitswelle», sagt Firmenleiterin Lucie Rein. Jeden Monat würden 10 bis 20 Prozent zusätzliche Portionen in Tüten gerettet. Alle sind mit Esswaren gefüllt, die sonst im Abfall landen würden, wie übrigens ein Drittel aller produzierten Nahrung in der Schweiz. «Ich kann nicht verstehen, dass man etwas produziert, um es dann wegzuwerfen», sagt Rein. Das sei nicht nur ineffizient, sondern auch ignorant. «Lebensmittel sind heute zu günstig, und die Leute kennen den Wert nicht mehr», nennt sie als Gründe für die Verschwendung.

Alles begann in Frankreich

Lebensmittel haben die französisch-schweizerische Doppelbürgerin seit jeher interessiert. Im Elsass aufgewachsen, studierte Lucie Rein Betriebswirtschaft in Lille (F) und Mannheim (D). «Eigentlich wollte ich mein eigenes Unternehmen gründen – wie mein Vater», sagt sie. Er hat im Elsass ein altes Industrieareal in eine Art Technopark verwandelt. «Gleich nach dem Studium fühlte ich mich dafür aber noch zu jung.» Sie wollte zuerst Grossfirmenluft schnuppern und kam in die Schweiz, um für verschiedene Nahrungsmittelhersteller zu arbeiten. Es war in ihrer Zeit in einem Industriebetrieb, als sie hautnah mitbekam, was Vergeudung bedeutet. «Ich musste einen Camion voller geniessbarer Ware wegwerfen lassen, nachdem dieser, wegen Verzögerungen an der Grenze, zu spät beim Kunden eintraf und der Kunde die Ware nicht mehr annahm», sagt die junge Frau. Es widerstrebte ihr so sehr Lebensmittel wegzuwerfen, dass sie ihren Job kündigte und nach etwas Sinnvollem suchte. «‹Too Good To Go› kannte ich aus Frankreich und von den Start-up-Konferenzen, an denen ich teilgenommen hatte.» Sie schrieb den dänischen Gründern von «Too Good To Go», und schlug ihnen eine Zweigniederlassung in der Schweiz vor.

Einige Monate später war sie «Waste Warrior in Chief», wie in ihrer E-Mail-Signatur zu lesen ist, oder: Chefkämpferin gegen Verschwendung. «Wir sehen uns als Bewegung, die sich für die Umwelt einsetzt.» Alle, die eine Tüte kauften und Lebensmittel retteten, seien «Waste Warrior».

Zu Beginn war sie als Einzelkämpferin unterwegs. «Ich musste mein Netzwerk ausbauen und Unternehmen finden, die ihre überschüssige Ware auf der App anbieten.» Eine Bäckerei in Genf war der erste Betrieb, den sie überzeugen konnte. Bei anderen Unternehmen blitzte sie anfangs ab. «Viele Leute waren überrascht, dass ich als junges Mädel das einfach so mache.» Der Jungen und Unerfahrenen habe man einfach mal abgesagt. «Doch ein Nein akzeptiere ich nicht als Antwort», sagt sie, die in ihrem Umfeld als äusserst hartnäckig bezeichnet wird.

Keine Schränke im Büro

Inzwischen hat die Firma 2000 Bäckereien, Hotels, Restaurants und Lebensmittelhändler unter Vertrag, 680 000 registrierte «Waste Warriors» beziehungsweise Nutzer, und beschäftigt 20 Mitarbeitende, vor allem Marketing-, Verkaufs- und Kundendienstleute. Im Schnitt sind die Angestellten 29 Jahre alt. Wer bei «Too Good To Go» arbeiten will, muss «leidenschaftlich sein und selbst etwas gegen Food-Waste unternehmen», wie die Chefin sagt. «Bei uns zu arbeiten, ist mehr als ein Job, es ist eine Lebenshaltung». Im Büro werden gemeinsam Essensreste von zu Hause verkocht. «Es gibt keine Schränke, keine Kugelschreiber, und wir drucken auch nichts aus», sagt Lucie Rein.

Sie ist bemüht, gar nichts zu verschwenden. An Mindesthaltbarkeitsdaten von Produkten hält sie sich meist nicht. «Ich probiere das Produkt selbst, um zu testen, ob es noch geniessbar ist.» Auch sonst sei sie bemüht, nachhaltig zu konsumieren. Sie kauft ihre Kleider und andere Sachen wenn möglich Secondhand. «Ich bastle auch viel und probiere, alles Kaputte zu reparieren.» Zudem sei sie Mitglied von Sharing-Plattformen, bei denen sie Gegenstände ausleiht, wie einen Raclette-Ofen, den man nur alle paar Monate brauche. «Ich fahre auch nicht Auto und nehme für Europareisen den Zug.» Aber sie esse noch Fleisch, wenn auch nur wenig. Und: «Ich fliege noch – leider.» In den Ferien habe sich das bisher nicht verhindern lassen. «Diese Lücke muss ich noch schliessen.»

An eigenen Läden tüfteln

Vorwärtsmachen will sie in den nächsten Jahren auch beim Thema Sensibilisierung für Lebensmittelverschwendung, etwa mit Info-Materialien für Schulen oder der kürzlich lancierten Initiative «Oft länger gut». Lebensmittelproduzenten drucken den Slogan auf ihre Produkte neben das Mindesthaltbarkeitsdatum, um die Konsumenten darauf aufmerksam zu machen, dass die Lebensmittel eben oft länger geniessbar seien. «Schliesslich sind die Ablaufdaten für rund zehn Prozent der Lebensmittelvergeudung verantwortlich.» Zudem tüftelt die Mutterfirma in Dänemark an Konzepten, die über die App hinausgehen – etwa an einem eigenen Webshop und an eigenen Läden. «Das kann auch in der Schweiz zum Thema werden.»

Für die junge Managerin gibt es noch viel zu tun. «Ich will, dass jeder in der Schweiz ‹Too Good To Go› kennt und verwenden kann, indem er bei jedem Kleinbetrieb um die Ecke Essen retten kann.» Bis dahin müssen ihre Pläne, ein eigenes Unternehmen zu gründen, warten.

 

  • 800 000 Mahlzeiten wurden seit Sommer 2018 in der Schweiz gerettet.
  • 200 Tonnen CO2 konnten so eingespart werden.
  • 680 000 Nutzer retten in der Schweiz Lebensmittel via App.
  • 2000 Betriebe bieten ihre nicht verkauften Waren auf der App an. 
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Das können Sie retten:

Die Migros kann 1,4 Prozent der angebotenen Esswaren nicht verkaufen. Produkte, deren Haltbarkeit in Kürze abläuft, werden vergünstigt, gehen gratis an karitative Organisationen oder werden über «Too Good To Go» weitergegeben. Im vergangenen Jahr wurden über 50 000 Tüten Lebensmittel via Migros gerettet, das entspricht einer CO2-Einsparung von 125 000 Tonnen. Neu wird «Too Good To Go» schrittweise in Migros-Filialen, -Restaurants und -Take-aways schweizweit eingeführt. Mit der Ausdehnung des Angebots kann bis zu einer Million Tüten gerettet werden.

Je nach Produkt, das die Migros nicht verkaufen kann, stehen folgende Tüten zur Auswahl:

  • Gemischte Tüte: Für Fr. 5.90 erhält man Convenience-Produkte wie Salate, Sandwiches, Backwaren oder  Milchprodukte, Früchte, Gemüse und Charcuterie – für einen  Warenwert von mindestens 18 Franken.
  • Früchte- und Gemüsetüte: Für Fr. 4.90 gibt es Früchte und/oder Gemüse im Wert von mindestens 15 Franken.
  • Restaurants: Das Angebot in den Migros-Restaurants besteht aus einem vegetarischen Menü und einer Standardportion, die vegetarisch oder fleischhaltig sein kann.
  • Take-aways: Auch in den Take-aways gibt es verschiedene Portionen mit Produkten aus dem bekannten Sortiment wie Sandwiches oder eine warme Portion, die auch nicht-vegetarisch sein kann.

Die Migros arbeitet seit vielen Jahren auch mit sozialen Institutionen wie Tischlein deck dich, Partage oder Schweizer Tafel zusammen. Diese Zusammenarbeit wird weitergeführt. Karitative Organisationen stehen bei der Abgabe von Lebensmitteln nach wie vor an erster Stelle.

 

Bild: Birnen, Zitronen, Broccoli: Diese Produkte können in der Wundertüte stecken.

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DIE APP - So retten Sie Lebensmittel
Wer Lebensmittel retten möchte, lädt die «Too Good To Go»-App bei Apple oder Play Store gratis herunter. Darin wird angezeigt, in welchen Geschäften oder Restaurants Essen bestellt und um welche Uhrzeit es dort abgeholt werden kann. Die Unternehmen packen die Lebensmittel in eine Tüte oder einen Korb, die am Ende des Verkaufstags übriggeblieben sind. Die Qualität der Produkte ist einwandfrei. Eine Mahlzeit oder Tüte ist ab Fr. 4.90 zu haben. Bezahlt wird bei der Bestellung direkt in der App. Nach jeder Bestellung erhält man einen Kaufbeleg per E-Mail und App, mit dem man die Waren im Geschäft abholen kann. Eine halbe Stunde vor Ladenschluss sind die Tüten am Kundendienst oder an den Self-Checkout-Kassen deponiert. Am besten nimmt man die eigene Tasche oder fürs Restaurant einen Behälter mit, um die Lebensmittel darin zu transportieren.

Unternehmen aus Dänemark
«Too Good To Go» wurde 2016 in Dänemark gegründet. Heute ist die Bewegung in 14 europäischen Ländern tätig. In den kommenden Jahren will sie auch ausserhalb von Europa Lebensmittel retten. Weltweit wurden schon 29 Millionen Portionen verkauft und 72 677 Tonnen CO2 eingespart. In der Schweiz waren es 800 000 Mahlzeiten und 200 Tonnen CO2. Bei einem Durchschnittspreis von 7 Franken pro Tüte hat das Unternehmen in der Schweiz bisher 5,6 Millionen Franken umgesetzt. Es finanziert sich über eine Kommission, die im Verkaufspreis einer Tüte bereits enthalten ist. 2000 Hotels Bäckereien, Restaurants und Detailhändler in der Schweiz bieten überschüssige Lebensmittel auf der App an. Jetzt arbeitet das Unternehmen daran, das Geschäftsmodell zu erweitern.

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