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Philosoph Yves Bossart

«Verzicht ist etwas Befreiendes»

Aus dem schwierigen Jahr 2020 lässt sich auch Positives mitnehmen, findet der Philosoph Yves Bossart. Ein Gespräch über den Umgang mit Corona, die Entwöhnung von Donald Trump und die hohe Kunst der Gelassenheit.

Text Ralf Kaminski
Fotos Dan Cermak
Datum
Yves Bossart (37) betreut bei SRF zusammen mit Barbara Bleisch die Sparte Philosophie

Yves Bossart beschäftigt sich bei SRF mit philosophischen Fragen des Alltags.

Yves Bossart, 2020 war ein Jahr, das viele gerne hinter sich lassen. Sehen Sie aus philosophischer Perspektive auch Vorteile, schwierige Zeiten zu durchleben?

Durchaus. Einerseits kann ein solcher Realitätsschock guttun – wir hier in der sicheren, wohlhabenden Schweiz erlebten plötzlich ein bisschen was von dem, was in vielen Teilen der Welt Alltag ist: Unsicherheit, Lebensgefahr, Produkteknappheit, die Unmöglichkeit, länger im Voraus zu planen. Das hat
uns von der Illusion befreit, dass uns solche Dinge nicht betreffen. Andererseits veränderte sich plötzlich einiges, das in Stein gemeisselt schien: Homeoffice verbreitete sich, die CO2-Belastung ging zurück. Offensichtlich sind unsere gesellschaftlichen Regeln gar nicht so starr, wie wir immer denken, man könnte sie also auch sonst etwas lockerer nehmen.

Gab es noch andere positive Effekte?

Viele wurden wachgerüttelt, machten sich plötzlich Gedanken über das Leben und unsere Gesellschaft. Gut möglich, dass Hochleistungskapitalismus und Globalisierung künftig verstärkt hinterfragt werden. Nicht zuletzt dürfte diese Pandemie auch ein Testlauf für die wesentlich grössere Klimakrise sein, die uns mutmasslich droht. Und auch sie ist ein Problem, das die Welt nur als Gemeinschaft lösen kann und wo sich Eingriffe erst zeitverzögert auswirken.

Wie meinen Sie das?

Bei jeder Corona-Massnahme dauerte es etwa zwei Wochen, bis sich die Wirkung zeigte – genauso funktioniert auch der Kampf gegen den Klimawandel. Wir müssen jetzt etwas unternehmen, damit wir in ein paar Jahren Schlimmeres vermeiden können. Aber in weiser Voraussicht zu handeln, ist für den Menschen einfach schwierig.

Philosoph und Autor

Yves Bossart (37) betreut bei SRF zusammen mit Barbara Bleisch die Sparte Philosophie. Auf Youtube diskutieren sie im neuen Format «Bleisch & Bossart» Alltagsfragen aus philosophischer Sicht. Bossart lebt in Zürich, ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Wer wegen Corona geliebte Angehörige oder seinen Job verloren hat, den dürften diese positiven Nebeneffekte kaum trösten.

Vielleicht hilft es ein wenig, sich bewusst zu machen, dass man mit dieser Situation nicht allein ist. Und die schwierige Jobsituation ist für die meisten nur vorübergehend. Allenfalls gelingt es sogar, trotz allem dankbar zu sein für das viele, das wir hier immer noch haben im Vergleich zu anderen. Dennoch sollte man sich die Dinge nicht schönreden: Die Lage ist hässlich, und da müssen wir jetzt durch. Das zu tun, fällt leichter, wenn man es annimmt, statt innerlich zu rebellieren.

Fast alle mussten zumindest zeitweise ihr Leben umstellen: Homeoffice, Homeschooling, keine Reisen, wenig Ausgang, wenig Spass. Fällt uns Verzicht besonders schwer, weil wir ihn nicht gewohnt sind?

So ist es. Dabei ist Verzicht etwas Wunderschönes, etwas Befreiendes! Alles, was wir «brauchen», macht uns auch abhängig, seien es nun das Handy oder Facebook-Freunde. Genügsamkeit ist ein wesentlicher Bestandteil von Glück und Zufriedenheit. Letztlich ist es eine Frage der Übung – und wir hier haben davon sehr wenig.

Wie lernen wir, mehr zu verzichten?

Aufhören, sich mit anderen zu vergleichen, wäre ein guter Start. Der andere hat das neueste iPhone? Ist doch egal! Mir scheint aber, dass gerade unter den Jungen ein erfreulicher Bewusstseinswandel stattfindet, hin zu einem nachhaltigeren Lebensstil.

Weshalb macht uns Neues eigentlich so viel Angst?

Das hängt mit unserem Kontrollbedürfnis zusammen; deshalb planen wir auch so oft weit in die Zukunft, in der Hoffnung, sie damit in unserem Sinne zu beeinflussen. Das ist wohl ein Ersatz für fehlendes Vertrauen, dass es auch so schon gut kommt. Oder dass man auch mit Überraschendem fertigwerden kann. Leute, die ein solches Urvertrauen haben, vielleicht auch ein Gottvertrauen, haben sicherlich weniger Angst vor der Zukunft.

Die Art der Massnahmen gegen Corona variieren von Land zu Land, doch vielerorts mobilisiert sich Widerstand. Wie geht man als Gesellschaft damit am besten um?

Man sollte nicht von oben herab auf Menschen schauen, die eine andere Meinung haben – gefragt sind Respekt und ein Austausch auf Augenhöhe.

Was ja eher nicht so passiert, oder?

Klar zu wenig. Problematisch sind auch Tabuthemen. Zu Beginn durfte man fast nicht laut aussprechen, dass die Medizin vielleicht schlimmer sein könnte als die Krankheit. So was ist nie gut: Es braucht offene, transparente Kommunikation, auch zu heiklen Fragen. Nicht zuletzt ist ein gesundes Mass an Toleranz und Pragmatismus gefragt. In einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft muss man auch Meinungen aushalten können, die einem gegen den Strich gehen.

Wie soll man reagieren, wenn gute Freunde sich plötzlich als Corona-Leugner erweisen und für rationale Argumente nicht mehr erreichbar sind?

Das Gespräch suchen, zuhören, wohlwollend Fragen stellen. Bloss nicht dagegen argumentieren, das verhärtet die Lage nur. Stattdessen immer weiter Fragen stellen, um den Hintergründen dieser Haltung auf die Spur zu kommen, um herauszufinden, worum es ihnen eigentlich geht. Es wird sicher ein langes Gespräch, aber wenn es gelingt, die Ängste und Sehnsüchte auszuloten, die dahinterstecken, kann man dort vielleicht ansetzen.

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«Über die zunehmende Zahl moralischer Anforderungen wird mit einem Eifer diskutiert, der an Religionsdebatten von früher erinnert», sagt Yves Bossart.

Die Pandemie hat die gesellschaftliche Polarisierung verstärkt: Wenn selbst geteilte Lebensgefahr uns nicht mehr zusammenbringen kann, was dann?

Die Polarisierung wird von zwei Entwicklungen angetrieben: Durch das Internet und die sozialen Medien haben sich Echokammern gebildet, die in einigen Ländern sogar die Massenmedien erfasst haben – dadurch leben die Menschen tatsächlich in unterschiedlichen Informationswelten. Hinzu kommt die Zunahme moralischer Anforderungen, über die mit einem Eifer diskutiert wird, der an Religionsdebatten von früher erinnert. Zu oft fehlen Dialog- und Kompromissbereitschaft.

Die müssten wir also zu stärken versuchen?

Genau. Und da können wir von Aristoteles lernen. Einerseits gibt es bei der Moral viele Graubereiche – es ist nicht immer alles so eindeutig richtig oder falsch. Moral verlangt Urteilskraft. Andererseits braucht Veränderung viel Übung und Geduld. Kein Sexist oder Rassist wird von heute auf morgen zu einem besseren Menschen, er muss das erst lernen, und dafür muss man ihm etwas Zeit zugestehen.

Und wie kann man den teils offenen Hass in den sozialen Medien deeskalieren?

Es ist ein gut untersuchtes Phänomen, dass am Bildschirm viel härter argumentiert wird, als wenn man einem Menschen direkt gegenübersitzt. Bei SRF können wir das Diskussionsklima deutlich verbessern, wenn wir moderierend eingreifen. Es ist ein bisschen, wie wenn ein Erwachsener zu einer Diskussion unter Jugendlichen stösst, die reden dann auch plötzlich anders. In den sozialen Medien ist das natürlich schwieriger. Am vielversprechendsten wäre eine Veränderung des Geschäftsmodells dieser Plattformen.

In welche Richtung?

Derzeit ist Streit gut fürs Geschäft, weil starke Emotionen mehr Leute anlocken, dank denen sich mehr Werbung verkaufen lässt. Eine Alternative wären Jahresgebühren oder eine Art öffentlich-rechtliche Finanzierung. Immerhin ist es ein Fortschritt, dass Twitter und Facebook problematische Beiträge inzwischen markieren oder verschwinden lassen – aber wollen wir wirklich, dass Angestellte einer Firma entscheiden, was Fakten sind und was nicht? Wir brauchen Kommunikationskanäle, die sich an Regeln halten, die wir demokratisch mitgestalten können.

Neben Corona hat uns 2020 wohl niemand so sehr beschäftigt wie Donald Trump. Nun ist der grosse Polarisierer abgewählt, hilft das ein bisschen?

Auf jeden Fall. Er war ein Zugpferd des globalen Rechtspopulismus und hat den Politikstil und die Diskussionskultur stark geprägt. So schnell werden wir die wohl nicht loswerden. Aber es besteht Hoffnung, dass die permanente Aufregung um ihn herum nachlässt und sich alles etwas beruhigt. Die Ursachen für seinen Aufstieg verschwinden mit seiner Abwahl jedoch nicht.

Dass sich viele abgehängt und verunsichert fühlen?

Ja, diese Ängste sind oft berechtigt. Die etablierten Parteien müssen sie ernst nehmen, und eine Sprache finden, um diese Menschen zu erreichen und sie so in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden. In der Schweiz ist das dank der direkten Demokratie und durch den Aufstieg der SVP ein Stück weit bereits passiert. Entscheidend ist auch, den Betroffenen zu helfen, die Umwälzungen in der Arbeitswelt zu bewältigen, die durch Globalisierung und Digitalisierung passieren. Trump hat diese Menschen erfolgreich angesprochen, ihnen jedoch nicht geholfen. Und er war noch in einer anderen Hinsicht interessant.

Nämlich?

Er kommt ursprünglich aus dem Reality-TV, wo sich Realität und Fiktion mit maximalem Unterhaltungswert vermischen. Genauso kommen mir auch diese vier Präsidentschaftsjahre vor: Wir starrten alle wie gebannt und bestens unterhalten auf das Trump-Spektakel, das sich zwar in der Realität abspielte, von ihm jedoch pausenlos mit Fiktionen gefüttert wurde. Vielleicht auch, weil er selbst dazwischen nicht mehr unterscheiden kann.

Wie können wir uns nun von ihm entwöhnen?

Es würde helfen, wenn die Republikaner ihn fallen liessen. Und wir alle sollten uns bewusst werden, dass Politik keine Unter-haltungsshow ist, sondern ernste Konsequenzen hat. Am Wirksamsten ist sie, wenn sie sich ganz langweilig mit der Suche nach Kompromissen beschäftigt – und in diese Richtung dürfte es nun auch in den USA wieder gehen.

Ein Beitrag von «Bleisch & Bossart» auf Youtube: Klimawandel – Dürfen wir noch Kinder bekommen? 

Viele Menschen sind sehr pessimistisch für die Zukunft, auch wegen der Folgen des Klimawandels. Kann die Philosophie Hoffnung machen?

Es ist tatsächlich nicht leicht, positiv zu bleiben, angesichts der vielen schlimmen Nachrichten, die pausenlos auf uns niederprasseln. Kein Wunder, dass dabei der Blick aufs grosse Ganze verloren geht, nämlich dass es der Menschheit noch nie besser ging als heute: Global gibt es mehr Wohlstand, bessere Gesundheit, höhere Lebenserwartung und weniger Gewalt als je zuvor. Der Klimawandel ist allerdings wirklich ein ernstes Problem. Ohne Verzicht wird es wohl nicht gehen – aber es gibt auch ein schönes, erfüllendes Leben ausserhalb des Überflusses. Und genau dafür brauchen wir dringend eine hoffnungsvolle, erstrebenswerte Zukunftsvision.

Und wenn wir diese Kurve nicht kriegen?

Dann kann man immer noch Schadensbegrenzung betreiben. Alles, was man tut, trägt dazu bei, dass es nicht noch schlimmer wird und die ganz düsteren Szenarien nicht eintreffen.

Läufts am Ende auf diesen alten Sinnspruch raus: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden?

Das bringts tatsächlich auf den Punkt; darin steckt auch eine Grundeinsicht der stoischen Philosophie: Grosse Teile unseres Lebens liegen nicht in unserer Hand. Katastrophen, Krisen und Krankheiten gehören zum Leben. Wir dürfen es mit unseren Erwartungen nicht übertreiben, sonst sind wir nur frustriert. Am Ende können wir die Welt nicht ändern, nur unsere eigene Einstellung zu ihr. Aber es braucht Übung und Zeit, zu einer solchen Haltung der heiteren Gelassenheit zu gelangen.

Auch die Migros hatte es nicht immer leicht dieses Jahr – die Ansprüche der Kundschaft sind hoch, ihr Ärger schnell geweckt. An welche Philosophie können sich Unternehmen halten?

Eine offene, transparente Kommunikation ist wichtig. Dazu gehört, Fehler einzugestehen, eine gewisse Gelassenheit und, wo angemessen, eine Prise Humor. Aber wir leben in moralisch aufgeladenen Zeiten, und die richtige Balance zu finden, ist eine Herausforderung. Man sollte sich ausserdem von extremen Stimmen nicht zu sehr aus der Ruhe bringen lassen. Es melden sich ja vor allem die paar, die sich ärgern – von der grossen Masse der Zufriedenen hört man nichts.

Ihr Arbeitgeber SRF baut um und ab. Bereitet Ihnen das Sorgen?

Das Philosophie-Angebot wird eher gestärkt, mit neuen Formaten auf Youtube, wie etwa «Bleisch & Bossart». Online haben einzelne «Sternstunden» schon mal eine Million Videostarts; dieses Potenzial soll nun genutzt werden. Offensichtlich treiben die grossen Lebensfragen die Leute um, und wir können ein wenig Orientierung bieten.

Welches sind Ihre Alltagssorgen in diesen Tagen?

Ich bin in einer privilegierten Situation, habe einen sicheren Job, und meine Liebsten sind alle gesund – am ehesten ist da die Sorge um unsere Eltern, die altersmässig zur Corona-Risikogruppe gehören.

Hilft Ihnen Ihr philosophisches Wissen, mit schwierigen Situationen besser umzugehen?

Inzwischen ja. Zu Beginn waren die philosophischen Einsichten auch für mich eher abstrakt, aber vieles davon habe ich nun verinnerlicht. Die Philosophie beschäftigt sich mit Grenzsituationen und Krisen, bevor sie passieren. Das kann helfen, wenn es so weit ist. Allerdings falle auch ich mal in ein Tief oder verliere die Fassung, das gehört eben zum Leben.

2021 kann nur besser werden, sagen jetzt viele. Was denken Sie?

Ich würde mal lieber nicht zu viel erwarten, dann kann man weniger enttäuscht werden (lacht). Man sollte generell nicht zu weit in die Zukunft schauen, sondern versuchen, den Moment zu erleben. Das allein ist schwierig genug.

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