Yves Bossart, 2020 war ein Jahr, das viele gerne hinter sich lassen. Sehen Sie aus philosophischer Perspektive auch Vorteile, schwierige Zeiten zu durchleben?
Durchaus. Einerseits kann ein solcher Realitätsschock guttun – wir hier in der sicheren, wohlhabenden Schweiz erlebten plötzlich ein bisschen was von dem, was in vielen Teilen der Welt Alltag ist: Unsicherheit, Lebensgefahr, Produkteknappheit, die Unmöglichkeit, länger im Voraus zu planen. Das hat
uns von der Illusion befreit, dass uns solche Dinge nicht betreffen. Andererseits veränderte sich plötzlich einiges, das in Stein gemeisselt schien: Homeoffice verbreitete sich, die CO2-Belastung ging zurück. Offensichtlich sind unsere gesellschaftlichen Regeln gar nicht so starr, wie wir immer denken, man könnte sie also auch sonst etwas lockerer nehmen.
Gab es noch andere positive Effekte?
Viele wurden wachgerüttelt, machten sich plötzlich Gedanken über das Leben und unsere Gesellschaft. Gut möglich, dass Hochleistungskapitalismus und Globalisierung künftig verstärkt hinterfragt werden. Nicht zuletzt dürfte diese Pandemie auch ein Testlauf für die wesentlich grössere Klimakrise sein, die uns mutmasslich droht. Und auch sie ist ein Problem, das die Welt nur als Gemeinschaft lösen kann und wo sich Eingriffe erst zeitverzögert auswirken.
Wie meinen Sie das?
Bei jeder Corona-Massnahme dauerte es etwa zwei Wochen, bis sich die Wirkung zeigte – genauso funktioniert auch der Kampf gegen den Klimawandel. Wir müssen jetzt etwas unternehmen, damit wir in ein paar Jahren Schlimmeres vermeiden können. Aber in weiser Voraussicht zu handeln, ist für den Menschen einfach schwierig.