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Nagelfabrik Winterthur

Wo sie Nägel mit Köpfchen machen

Seit 1895 produziert die Schweizerische Nagelfabrik in Winterthur Nägel, inzwischen als einzige in der Schweiz – und erst noch ohne Chef. Die sechs Mitarbeitenden führen das KMU gemeinsam.

Text Ralf Kaminski
Fotos Daniel Winkler
Datum
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Rainer Thomann ist eigentlich schon pensioniert, arbeitet aber noch Teilzeit in der Administration der «Nagli».

Es wummert, rummst und knallt. Die wuchtigen Produktionsmaschinen verwandeln Metalldrähte auf riesigen Spuhlen lautstark in Nägel aller Art: dünn, dick, lang, kurz, mit ein oder zwei Köpfen. Sie ziehen den Draht ein, zerteilen und formen ihn und spucken am Ende das bestellte Produkt aus. Der Lärmpegel dabei ist so hoch, dass man sich nur mit Mühe verständigen kann.

30 solcher Maschinen rotieren in den Hallen der Schweizerischen Nagelfabrik in Winterthur-Grüze vor sich hin, die jüngste stammt aus den frühen 1980er-Jahren. Sie produzieren jährlich rund 200 Tonnen Nägel, insgesamt mehr als 300 verschiedene Typen. «Letztes Jahr waren es 370», sagt Rainer Thomann, seit 1990 bei der «Nagli» tätig und eigentlich pensioniert. Der 65-Jährige ist dennoch weiterhin mit einem 40-Prozent-Pensum im Einsatz, zuständig für die Administration.

Thomann war nicht nur viele Jahre Geschäftsführer der Firma, er weiss auch alles über die Nagelindustrie und ihre Historie – und könnte stundenlang darüber erzählen. Noch 1970 gab es in der Schweiz sieben Unternehmen, die Nägel produzierten, und die Fabrik in Winterthur hatte gerade mal einen Marktanteil von 3,5 Prozent. Doch seit 1998 ist die «Nagli» die einzige Überlebende, die letzte ihrer Art. Wie kam es dazu?

Das Ende des Nagelkartells

Ein Faktor war der heftige Preiskampf. Fabriken in den Nachbarländern produzierten günstiger, was es immer schwieriger machte, genügend Geld zu verdienen, insbesondere für Massenware. Immer mehr gaben auf oder liessen sich aufkaufen, bis die von Moos-Gruppe in Emmenbrücke LU Anfang der 90er-Jahre den Markt mit einem Anteil von 90 Prozent dominierte.

«Und dann haben wir das Nagelkartell gesprengt», sagt Rainer Thomann und lächelt spitzbübisch bei der Erinnerung daran. Es sei nämlich, erklärt er, seit Jahrzehnten vertraglich festgelegt gewesen, welche Firma wie viele Nägel zu welchem Preis verkaufen durfte. Wer sich nicht daran hielt, wurde gebüsst. «Und zweimal pro Jahr traf sich die ehrenwerte Gesellschaft des Kartells standesgemäss in Zürich im Grand-Hotel Dolder, um sich bei edlem Essen selbst zu feiern.»

naegel

200 Tonnen Nägel entstehen heute noch pro Jahr in der Nagelfabrik.

Doch die Winterthurer Nagelfabrik litt unter dem Kartell: «Wir hatten zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben – wir hätten mehr verkaufen können, durften jedoch nicht. Aber dann kam uns eine Klausel im Kartellvertrag zu Hilfe.» Dort hiess es, wenn mehr als 50 Prozent des Marktanteils austrete, werde der Vertrag hinfällig. Und genau das passierte, als sich der vorletzte grosse Produzent, die Vereinigten Drahtwerke in Biel, aus dem Geschäft zurückzog.  Übrig waren dann neben der mächtigen von Moos, die das Kartell seit jeher präsidierte, nur noch die kleine «Nagli» sowie ein dritter kleiner Hersteller, der jedoch auch kurz vor der Aufgabe stand.

«Von Moos versuchte, einen neuen Kartellvertrag abzuschliessen, was wir jedoch verweigerten. Und so spielte ab 1993 der freie Markt. In nur zwei Jahren konnten wir unseren Umsatz verdoppeln.» Von Moos habe dann noch mit einigen Tricks versucht, der «Nagli» das Leben schwer zu machen, wurde jedoch 1996 mit seinem Hauptkonkurrenten von Roll zwangsfusioniert. Und 1998 beschloss das neue Management, die Nagelproduktion einzustellen, weil sie zu wenig lukrativ war.

Ein SRF-Video zur Nagelfabrik in Winterthur gibt es hier.

Dass die kleine Winterthurer Nagelfabrik bis heute nicht nur überlebt hat, sondern ihren Mitarbeitenden sichere und anständig bezahlte Jobs bietet, hat sie nicht zuletzt weitsichtigen Chefs zu verdanken, die Gelegenheiten zu nutzen verstanden. Nach und nach zogen sie sich aus dem Massenmarkt zurück, weil sich dort kein Geld mehr verdienen liess – dafür ist die Konkurrenz in Osteuropa zu stark, insbesondere in Weissrussland.

Stattdessen spezialisierten sie sich auf Nischenprodukte, Sonderwünsche und hohe Qualität. Dadurch produzieren sie heute zwar viel weniger als noch 2004, als 1300 Tonnen Nägel in Winterthur entstanden; sie tun dies dafür mit grösserem Gewinn.

Menschen vor Profit

Das jüngste Produkt sind kleine, speziell beschichtete Nägel für Elektronikteile von Elektroautos. «Wobei wir schon lange nicht mehr aktiv um neue Kunden werben», betont Thomann. «Wir konzentrieren uns darauf, die bisherigen zu halten, bekommen aber immer wieder mal Anfragen von anderen. Und daraus entwickeln sich gelegentlich neue feste Aufträge.» Hauptabnehmer der Nägel sind der Fachhandel, zudem die Landi sowie zahlreiche Kunden mit Spezialwünschen, einige davon aus dem Ausland.

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Zeljo Milicevic ist mit 32 Jahren der jüngste Mitarbeiter – und Mitbesitzer – der alten Fabrik

Die Firmenphilosophie sei schon immer «Menschen vor Profit» gewesen, sagt Thomann – bereits unter der ehemaligen Besitzerfamilie Gratwohl. So gesehen scheint es konsequent, dass 2013 die Idee aufkam, das KMU in eine Genossenschaft umzuorganisieren und gleichzeitig sämtliche Chefposten abzuschaffen.

Bis zur kompletten Umsetzung dieses Plans dauerte es jedoch einige Jahre. Die Finanzierung der Genossenschaft gelang schliesslich im Herbst 2019 dank eines Darlehens des früheren Besitzers Heinz Gratwohl, das nun über die nächsten sieben bis zehn Jahre abgezahlt wird. Und heute besitzen die sechs Mitarbeitenden, fünf Männer und eine Frau, die Nagelfabrik gemeinsam und fällen sämtliche Entscheide basisdemokratisch. Dazu gehört auch, dass niemand aus wirtschaftlichen Gründen entlassen werden kann.

150-Jahr-Jubiläum im Visier

Auch die meisten anderen sind schon lange dabei. «Klar, in den Hallen ist es laut und staubig, im Sommer heiss und im Winter kalt», sagt Thomann, «aber es ist ein sehr sicherer Arbeitsplatz, und vor fünf Jahren haben wir die Arbeitszeit auf 34 Stunden an vier Tagen reduziert, bei vollem Lohn.»

Diese ungewöhnlichen Arbeitsbedingungen gefallen auch Zeljo Milicevic, mit 32 Jahren der jüngste Mitarbeiter. Er ist seit 2013 dabei. Der Elektroniker, der in seiner alten Heimat Kroatien einige Zeit als Polizist tätig war, kam der Liebe wegen in die Schweiz und durch einen langjährigen Produktionsmitarbeiter in die «Nagli». Hier kümmert er sich primär um die Maschinen, aber auch um Logistik und anderes. «Es ist ein sehr abwechslungsreicher Job und durch die Mitverantwortung für die Firma auch anspruchsvoll und spannend.»

Sogar die fünf verbliebenen, richtig alten Maschinen aus dem Jahr 1895 kann er bedienen. Sie stehen als Museumsstücke in einer Nebenhalle und können besichtigt werden – was pro Jahr rund 1000 Interessierte tun. Vier der mechanischen Ungetüme funktionieren noch, man sollte sich dann allerdings nur mit Gehörschutz in ihre Nähe wagen. 

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Diese Nagelmaschinen  stehen schon seit 1895 hier und funktionieren immer noch – heute jedoch nur noch als Museumsstücke.

Das 125-Jahr-Jubiläum hätte 2020 eigentlich gross gefeiert werden sollen, doch wie so vieles hat Corona auch diese Pläne aus der Bahn geworfen. Rainer Thomann ist allerdings überzeugt, dass die «Nagli» auch noch den 150. Geburtstag wird feiern können. Er ist fest entschlossen, daran teilzunehmen: «Ich werde dann 90 sein und komme mit dem Rollator zur Party.»

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