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Philipp Blom

«Wir leben in einer Zeit, in der viel auf dem Spiel steht»

Klima, Demokratie, Wirtschaft: Die Menschheit steckt bereits mitten in der Krise, sagt der Historiker und Philosoph Philipp Blom. Wolle sie noch Schlimmeres vermeiden, dürfe sie nicht einfach so weiter machen wie bisher. Sondern müsse den Mut haben, sich neu zu erfinden.

Text Ralf Kaminski, Benita Vogel
Datum
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Die Folgen des Klimawandels könnten am Ende unsere heutige Zivilisation gefährden, befürchtet Philipp Blom. (Bild: Getty Images)

Philipp Blom, unsere Welt befinde sich am Ende von etwas, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch. Am Ende von was genau?

Am Ende jener Zeitperiode, die treffend mit dem biblischen Satz «Macht euch die Erde untertan» umschrieben ist. Diese Zeit ist charakterisiert durch Eroberung, Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung – auch durch eine sehr einseitige Beziehung zur Natur.

Woraus schliessen Sie, dass es damit dem Ende zugeht?

Aus den eskalierenden Nebenwirkungen. Die hielten sich lange in Grenzen, weil unser Verhalten nur lokale Konsequenzen hatte, doch durch das enorme Bevölkerungswachstum, den technologischen Fortschritt und die Globalisierung hat dieses Prinzip uns nun in eine schwere Krise gestürzt. Insbesondere die Folgen für Umwelt und Klima sind zunehmend existenzbedrohend. Wir sind eben nicht die «Krone der Schöpfung», sondern lediglich ein Organismus unter vielen auf dieser Erde – und für das Gleichgewicht der Natur längst nicht so wichtig wie Plankton oder Ameisen.

Auch Corona hat uns unsere Grenzen bewusst gemacht.

Umso mehr als dieser Virus auch eine dieser Nebenwirkungen ist. Durch unser Eingreifen sind sich Tierarten begegnet, die sonst kaum je zusammenkämen, was die Mutation und das Überspringen des Virus auf den Menschen erst ermöglicht hat. Corona hat uns die Verletzlichkeit unserer Zivilisation bewusst gemacht: Unsere mächtigen Märkte und Gesellschaften wurden von einer blöden kleinen RNA-Kette innert Tagen lahmgelegt.

Sie beziehen sich in Ihrem Buch auf die dramatischen Folgen, die die Kleine Eiszeit im 17. Jahrhundert auf das europäische Leben und die Gesellschaft hatte – erst kam eine schwere Krise, dann eine neue, bessere Welt. Und Sie klingen überzeugt, dass wir gerade am Beginn einer ähnlichen Umwälzung stehen.

Das glaube ich tatsächlich. Und anhand der Kleinen Eiszeit lässt sich gut darstellen, was für tiefgreifende Folgen der Klimawandel haben kann. Er traf damals auf ein veraltetes landwirtschaftliches System, das damit nicht umgehen konnte, was zu einer schweren systemischen Krise führte. Diese erfasste bald auch die Gesellschaft und ihre Vorstellungen über sich und die Welt, ihre Meistererzählung sozusagen.

Wie sah diese Meistererzählung aus?

Gott hat uns die Erde gegeben und sorgt für uns, solange wir seine Gebote befolgen und ihm Dankbarkeit zeigen. Doch plötzlich war das nicht mehr so, die Menschen hatten nicht mehr genug zu essen, weil das kalte, nasse Wetter die Ernteerträge drastisch reduzierte. Und nichts, was die Leute innerhalb ihrer Meistererzählung versuchten, um das Problem zu lösen, bewirkte eine Besserung: weder Bussgottesdienste noch Pilgerreisen noch Selbstgeisselungen. Besser wurde es erst, als andere Vorstellungen, andere Erzählungen, ins Spiel kamen, die letztlich der Wissenschaft und wettbewerbsorientierten Märkten zum Durchbruch verhalfen – den Anfängen unserer heutigen Welt.

Historiker und Philosoph Philipp Blom

(Bild: Heike Bogenberger)

Historiker und Autor

Philipp Blom (51) ist ein deutscher Historiker, Philosoph und Autor zahlreicher Bücher. In seinem neuen Werk «Das grosse Welttheater» befasst er sich mit den Krisensymptomen der Gegenwart und möglichen Folgen des Klimawandels auf unsere Gesellschaft. Blom ist verheiratet und lebt in Wien.

Buchtipp: Philipp Blom: «Das grosse Welttheater. Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs», Zsolnay 2020, auch bei exlibris.ch

Und jetzt befinden wir uns in einem ähnlichen Moment?

Richtig, der Klimawandel hat begonnen, die ersten Folgen spüren wir bereits. Und unsere Meistererzählung des ewigen Wachstums, des ewigen Fortschritts, der Herrschaft über die Natur funktioniert nicht mehr – wir können in einer endlichen Welt kein unendliches Wachstum haben. Und wenn wir nur einfach so weiter machen wie bisher, werden wir die Krise nicht verhindern geschweige denn bewältigen können. Aber es gibt schon jetzt neue Erzählungen, alternative Ideen, die miteinander im Wettbewerb stehen, um die alte Meistererzählung zu ersetzen.

Ganz so negativ ist die Lage also gar nicht?

Schon, aber es ist auch ein gefährlicher Moment. Denn unter diesen Erzählungen sind auch nicht besonders menschenfreundliche. In den USA etwa sehen wir, wie eine liberale Demokratie so weit erodiert ist, dass ein substanzieller Teil der Bevölkerung das Resultat einer demokratischen Wahl für Betrug hält und den Sturm aufs Capitol in Washington Anfang Januar gutheisst. Zum Glück gibt es auch andere Erzählungen – etwa jene der Klimajugend –, aber wir kommen nun in eine heikle Phase, in der wir experimentieren müssen, um uns auf eine neue Meistererzählung festzulegen. Und dabei braucht es vielleicht ein paar rote Linien.

Was für Linien?

Wir sollten festlegen, wo wir keine Kompromisse machen wollen, zum Beispiel bei Menschenrechten und liberaler Demokratie. Es ist eine Illusion zu glauben, diese sei der Normalzustand, nur weil wir in einer aufgewachsen sind. Im heutigen Sinne gibt es Demokratie erst seit wenigen Jahrzehnten und nur in wenigen Ländern. Sie wurde hart errungen, ist alles andere als selbstverständlich, und es besteht ein ernsthaftes Risiko, dass sie im Zuge grösserer gesellschaftlicher Veränderungen weggespült wird. Wir leben in einer Zeit, in der viel auf dem Spiel steht.

Oft werden Autokraten aus Verzweiflung gewählt. Den Menschen geht es schlecht, und alle anderen haben nicht geholfen.

Ja, das schöne Versprechen der liberalen Demokratie – «euren Kindern wird es mal besser gehen als euch» – das gilt für die grosse Mehrheit nicht mehr. Es gibt für viele keine positive Zukunftsvision. Die Antworten, die bisher immer wahr schienen, funktionieren nicht mehr. 

Können wir dabei auch etwas aus der Geschichte lernen?

Im Konjunktiv bin ich sehr positiv. Wir könnten daraus lernen. Die Frage ist, ob wir den notwendigen politischen Willen zur Umsetzung alternativer Modelle haben.

An was denken Sie da?

Da kämen eine CO2-Steuer, ein Fokus auf nachhaltig hergestellte Produkte oder das bedingungslose Grundeinkommen ins Spiel, über das Sie in der Schweiz sogar schon abgestimmt haben. Klar, ganz ohne Wachstum geht es nicht, aber wir könnten unsere Ökonomien und Gesellschaften auf weniger schädliches Wirtschaften umstellen, wir müssen es nur wollen. Der Markt ist da, um uns zu dienen, nicht umgekehrt – derzeit aber profitieren zu wenig Leute von ihm. Im Grunde haben die meisten doch schon akzeptiert, dass die heutigen Konzepte keine Zukunft mehr haben.

Woraus schliessen Sie das?

Etwa aus dem, was Politikerinnen und Politiker vor Wahlen als Hoffnungsszenarien präsentieren, um für sich zu werben: sichere Arbeitsplätze, weniger Einwanderung, höhere Grenzmauern. Es geht um Statussicherung, darum dass sich nichts verändert, dass einem nichts weggenommen wird. Niemand macht Wahlkampf mit Ideen, wie der Kontinent 2050 besser wird als heute. Dabei wäre das Hoffnungsszenario doch, unseren Enkeln eine Welt zu hinterlassen, für die wir uns nicht schämen müssen. Doch wir bewegen uns bestenfalls in Trippelschritten.

Was wir bis jetzt tun, reicht also nicht?

Nein, und wir stecken ja bereits mitten in der Krise. Aber das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht – wenn wir uns nicht selbst zu Veränderungen aufraffen können, werden wir dann halt von Ereignissen dazu gezwungen. 

Philipp Blom bei «Sternstunde Philosophie» im SRF.

In welchen Bereichen müssen wir umdenken? Geht es primär um die Wirtschaft?

Nicht nur, wir sollten auch unsere Demokratie neu organisieren – häufigere Sachabstimmungen wie bei Ihnen in der Schweiz wären eine gute Idee. Vor allem aber muss der Grundgedanke der neuen Meistererzählung stimmen: Dass wir Menschen nicht ausserhalb der Natur stehen, sondern tief verstrickt mit ihr sind, verbunden mit allem in einem unendlich komplexen System. Auf dieser Basis müssen wir neu über uns und unsere Beziehung zur Welt nachdenken.

Doch für viele funktioniert die bisherige Welt noch immer bestens – die Menschheit lebt heute schliesslich so gut wie nie zuvor.

Natürlich haben wir enorme Fortschritte gemacht und leben in unserem Teil der Welt in einem Wohlstand, den es so noch nie gegeben hat. Nur entstand der auch auf Kosten anderer – und das heutige System als alternativlos zu sehen, ist angesichts der vielen Kollateralschäden ein Problem.  

Aber nicht für alle. Viele erwarten, dass der technologische Fortschritt diese Probleme lösen wird und sehen keinen Grund, irgendetwas neu zu denken. Wie wollen Sie die erreichen?

Das ist tatsächlich nicht leicht. Man kann es mit Zahlen und rationalen Argumenten versuchen – etwa dass 2019 die Regenwälder der Welt in einer Geschwindigkeit von 30 Fussballfeldern pro Minute abgeholzt wurden oder dass in Grönland eine Million Tonnen Eis pro Minute wegschmilzt. Und dass es hochgradig unwahrscheinlich ist, dass sich das im komplexen Zusammenspiel der Natur nicht am Ende auch auf uns auswirkt. Vielleicht haben die Optimisten sogar recht, und wir finden für einige dieser Probleme technologische Lösungen. Doch noch sind sie nicht da, und bis es soweit ist, müssen wir etwas unternehmen.

Das Risiko ist dennoch hoch, dass viele erst dann Einsicht zeigen, wenn sie ernsthafte Nachteile am eigenen Leib spüren, nicht?

Leider. Aber so lange wird das nicht mehr dauern. Schon jetzt verlagert sich die Zone, in der man Getreide anbauen kann, pro Jahr um 20 Kilometer vom Äquator weg. Das wird für Millionen Menschen ein Problem und zu grossem politischen Chaos führen, das auch wir in den reichen Ländern spüren – zum Teil tun wir es jetzt schon, etwa anhand der Flüchtlingszahlen. Nur war 2015 harmlos verglichen mit dem, was kommen wird. 

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Die Zone, in der man Getreide anbauen kann, verlagert sich pro Jahr um 20 Kilometer vom Äquator weg. (Bild: Getty Images)

Im Buch schreiben Sie, als Folge des Klimawandels entstehe ein Strudel der Transformation, der die Macht habe, alles, was als fortschrittlich, gesichert und zivilisiert betrachtet wird, mit sich zu reissen und zu zermalmen. Das klingt schon sehr düster.

Ja. Aber nur wenn wir begreifen, wie ernst die Lage ist, können wir die Entschlossenheit aufbringen, richtig zu handeln.

Im Kino und in Büchern finden sich viele Weltuntergangsszenarien. Hoffnungsvolle Utopien gibts kaum. Wie könnte eine bessere Welt in 100 Jahren aussehen?

Zunächst mal bin ich sicher, dass man in 100 Jahren mit Erstaunen und auch Ekel auf unsere Zeit schauen wird. Wir sind die Generation, die am Kippschalter der Klimakatastrophe sitzt, die diese furchtbaren Tierfabriken betreibt, um billige Schnitzel essen zu können, die ihre Städte ruiniert, um sie mit Blechkisten durchfahren zu können. Unsere Zeit wird dereinst als sehr seltsam gelten. Aber Utopien sind auch keine Lösung – dabei stellt man sich in der Regel eine ideale Gesellschaft vor und versucht dann, die Menschen zu schaffen, die dort reinpassen. Das ist bisher immer gründlich schief gegangen. Ein Ansatz wäre vielleicht der Versuch einer artgerechten Haltung.

Von uns Menschen?

Es ist Teil der biblischen Selbstüberschätzung, dass wir uns nicht mehr als Tiere begreifen. Dabei liessen sich aus unserer evolutionären Entwicklung einige nützliche Erkenntnisse zu unseren Primatenbedürfnissen ziehen. Etwa, dass wir uns am wohlsten fühlen, wenn wir in Gruppen von 30 bis 40 Personen leben, oder dass wir ein Gefühl von Sicherheit und Gemeinschaft brauchen. Gleichzeitig leben wir heute in sehr diversen Gesellschaften – und viele Menschen fühlen sich wohl so. Wir können also nicht davon ausgehen, dass eine einzige Form des Daseins für alle funktioniert. Eine positive Zukunftsgesellschaft muss Platz haben für ganz unterschiedliche Lebensentwürfe.

Im Buch vermuten Sie, dass die Klimakatastrophe dabei helfen wird, eine neue gemeinsame Erzählung zu finden.

Tatsächlich fehlten uns in letzter Zeit einschneidende Ereignisse, die uns als Gesellschaft zusammenbringen wie das Kriege oder Hungersnöte früher getan haben. Und fehlende gemeinsame Erfahrungen machen es schwierig, gemeinsam etwas zu tun, sich auf etwas zu einigen. Die Coronakrise ist nun ein solches einschneidendes Ereignis, die Klimakatastrophe wird es wohl ebenfalls sein. Corona zeigt aber auch, dass die gemeinsame Erfahrung sehr unterschiedlich interpretiert werden kann. Es wird wohl Gesellschaften geben, die innovativere und mutigere Wege gehen, und andere, die noch länger im Bisherigen verhaftet bleiben.

Was kann der Einzelne beitragen, damit es in die richtige Richtung geht?

Er kann sich als Konsument umwelt- und klimafreundlich verhalten, wirtschaftlich und politisch Druck ausüben, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten gesellschaftlich engagieren.

Was tun Sie konkret?

Ich besitze kein Auto, esse sehr bewusst weniger Fleisch, schreibe Bücher und halte Vorträge. Aber am Ende sind wir hier in der westlichen Welt unvermeidlich alle Komplizen von grossen Schweinereien, die im Rahmen des Systems angerichtet werden, in dem wir uns so bequem eingerichtet haben. Es ist nahezu unmöglich, sich da rauszunehmen und zu behaupten, mit einem selbst habe das nichts zu tun.

Sie haben keine Kinder – auch weil Sie die Welt nicht zusätzlich belasten wollen und für die unmittelbare Zukunft eher pessimistisch sind?

Nein, es hat sich einfach nicht ergeben. Aber ich kann diese Gründe gut verstehen. Ich nehme viel Anteil an den Kindern meiner Freunde, und es kann einem schon ein wenig den Magen umdrehen, dran zu denken, worauf die zugehen.

Gibt es auch etwas, das Ihnen Hoffnung macht?

Bei einem Vortrag vor sehr reichen Förderern eines Museums in Zürich, habe ich gefragt, wer im Raum glaube, dass es unser Wirtschaftssystem in 50 Jahren noch so geben werde wie heute. Nicht einer hat seine Hand erhoben. Das ist doch immerhin ein Signal, dass auch wichtige Entscheidungsträger die Zeichen der Zeit im Prinzip erkannt haben. Und jetzt während der Coronakrise haben wir die Wirtschaft und die Gesellschaft runtergefahren, um primär alte und kranke Menschen zu schützen – Menschen, die ökonomisch als nicht wertvoll gelten. Auch das ist bemerkenswert. Covid hat uns zudem gezeigt, dass es auch anders geht. Dass wir, wenn es sein muss, unser System radikal auf den Kopf stellen können.

Allerdings möchten viele möglichst rasch genau zu dem zurück, was wir vorher hatten.

Das wäre eine verpasste Gelegenheit. Wir sollten die Krise nutzen, uns zu fragen, auf was wir problemlos verzichten können – Kreuzfahrten zum Beispiel.

Sind Sie eher optimistisch oder pessimistisch, dass die Menschheit die Kurve noch rechtzeitig kriegt?

Das hängt von der jeweiligen Tagesstimmung ab. Es ist in der Tat nicht leicht, optimistisch zu sein, wenn man sich mit diesen Themen ernsthaft befasst. Entscheidend ist, nicht aufzugeben. Corona hat auch gezeigt, dass die Natur erstaunliche Regenerationskräfte hat, wenn man ihr eine Chance gibt. Und genau das müssen wir tun.

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