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Industriekletter Thomas Hofmann

Er hat einen echten Topjob

Früher war Thomas Hofmann Lehrer und unzufrieden mit seinem Beruf; heute ist er Industriekletterer und im siebten Himmel. Von dort sieht er die Welt aus aus ganz neuen Perspektiven.

Text Michael West
Fotos Claudio Bader
Datum
Spezialseile, Gurte, Metallringe und Karabinerhaken – Thomas Hofmanns Leben hängt an seiner Ausrüstung.

Spezialseile, Gurte, Metallringe und Karabinerhaken – Thomas Hofmanns Leben hängt an seiner Ausrüstung.

Vorsichtig greift der durchtrainierte Mann ins Geäst eines Schneeballstrauchs. Mit einer Gartenschere stutzt er einige Zweige, die einer Jalousie zu nahe kommen. Dann kümmert er sich um eine Schlingpflanze, die eine Japanische Buche überwuchert hat.

Was Thomas Hofmann hier macht, ist ganz normale Gärtnerarbeit. Alles andere als alltäglich ist aber der Ort, an dem er Pflanzen zurückschneidet: Er hängst nämlich im Leeren, und unter ihm geht es fast 70 Meter senkrecht in die Tiefe. Der Mann mit der gelben Leuchtweste seilt sich gerade im Zuger Dorf Risch-Rotkreuz vom Dach eines begrünten Hochhauses ab. Der 21-stöckige Aglaya-Wohnturm ist ein spektakuläres Bauwerk: Unzählige Bäume, Sträucher und Schlingpflanzen verwandeln es in einen vertikalen Wald. Im Frühling ergrünt das preisgekrönte Haus; im Herbst färbt es sich rötlich.

Bei der Arbeit hoch hinaus

Das alles sieht toll aus – doch jemand muss sich von Zeit zu Zeit um das Pflanzenkleid des Turms kümmern, ohne jedes Mal ein Gerüst aufzubauen. Hier kommt die von Hofmann gegründete Spezialfirma «Toprope» aus Worb BE ins Spiel. Er und seine neun erfahrenen Industriekletterer sind im Einsatz, wenn in der Stadt, in Fabriken oder Kraftwerken Bergsteigerkünste gefragt sind. Sie erklimmen zum Beispiel hohe Dächer, um Blitzableiter zu installieren, oder sie seilen sich von Brücken ab, um rostige Stellen an Stahlträgern auszubessern. Manchmal führt ihre Arbeit auch tief unter die Erde: So sicherten sie einmal den Abstieg von Inspektoren, die 200 Meter unter dem Uetliberg Rohre und Kavernen der Zürcher Wasserversorgung kontrollieren mussten.

 

Bei der Arbeit hängt das Leben der «Toprope»-Leute buchstäblich an ihrer Ausrüstung: Jeder der Männer steckt in einem komplizierten Gebilde aus Gurten, Metallringen und Karabinerhaken. Das Ganze mündet in zwei extrem belastbare Seile aus Nylon und Polyester, die heute am Dachrand des Agaya-Hochhauses verankert sind. Sie könnten ein Gewicht von bis zu zwei Tonnen tragen.

Die Kletterausrüstung wird vor jedem Einsatz bis ins Detail kontrolliert, ausserdem regelmässig gewartet und erneuert. Ebenso wichtig ist die körperliche Fitness der Spezialisten. «Vor allem eine kräftige Rumpfmuskulatur ist nötig», erklärt Hofmann. «Sie sorgt dafür, dass man nicht unkontrolliert in den Gurten hängt.» Er selber trimmt sich in der Freizeit am liebsten, indem er die Sandsteinfelsen des Beatenberges im Berner Oberland erklimmt.

Immer wieder betont der Firmengründer, dass seine Arbeit nichts mit Draufgängertum und Machismo zu tun hat: «Wir suchen nicht den Nervenkitzel, wir beschränken das Risiko mit allen Mitteln auf ein absolutes Minimum.» Er wolle auch, dass seine Männer Schwäche zeigen könnten. «Wenn einer Liebeskummer hat, soll er mir das sagen und lieber einen Einsatz ausfallen lassen.»

In Arbeitspausen nimmt sich Hofmann immer kurz Zeit, die Aussicht zu geniessen. Vom Aglaya-Turm geht der Blick auf den Zugersee, über dem sich gerade grauschwarze Gewitterwolken in den blauen Sommerhimmel türmen. Weit unten rattert ein Güterzug vorbei; aus der Distanz sieht er aus wie ein Spielzeug. «Das ist das Tolle an meinem Beruf», sagt der Berner. «Ich sehe die Welt aus ganz ungewohnten Perspektiven. Das gibt mir das Gefühl, mitten im Schweizer Alltag wie ein Pionier in Neuland vorzustossen.»

Fürs Klettern begeisterte sich Hofmann schon als Kind. Er stieg so flink wie eine Katze auf Bäume. Die Berge entdeckte er damals noch nicht, denn seine Eltern zogen Wanderungen im Mittelland vor. Wie eine Offenbarung kam es ihm vor, als er als Teenager an einem SAC-Kletterlager teilnehmen durfte: In den folgenden Jahren wurde er zum passionierten Bergsteiger.

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Im Schulzimmer gefangen

Seinen Traumberuf fand er allerdings nur auf Umwegen: Zuerst machte er eine Lehrerausbildung und unterrichtete danach zwei Jahre lang als Stellvertreter verschiedene Klassen. «Mir fehlte aber eindeutig die Leidenschaft, die man für diese verantwortungsvolle Tätigkeit braucht», erinnert sich Hofmann. «Ich fühlte mich im Schulzimmer so isoliert wie in einer Blase, und mir fehlte der Kontakt zu anderen Erwachsenen.»

Später arbeitete er als Schlosser und verband schliesslich seine Freude an handwerklichen Arbeiten mit der Leidenschaft am Klettern. Er wählte den seltenen Beruf eines Industriekletterers und gründete 2004 seine eigene Firma, mit der er in der Schweizer Arbeitswelt eine Nische besetzte. Hofmann ist beruflich buchstäblich aufgestiegen. Auf seinen schweisstreibenden Spitzenjob und seinen ungewöhnlichen Blick auf die Welt möchte er nicht mehr verzichten.

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