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Loben und bestrafen

«Jetzt hast du’s wieder nicht gekonnt!»

Nachsitzen oder Hausordnung abschreiben sind in der Schule immer noch beliebte Strafen. Mittlerweile gehören auch traurige Smileys dazu. Bringt das was?

Text Kristina Reiss
Datum
Bild: Getty Images

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Im ersten Zeugnis, das der Erstklässler stolz nach Hause bringt, prangt eine Verwarnung. Der Sohn hat offensichtlich Mühe, sich in der Klasse zu konzentrieren. Sein Vater ist ratlos: «Was lernt mein Kind nun daraus?»

In Schweizer Schulzimmern hat sich in den letzten Jahren viel verändert. Kinder werden individueller unterrichtet, lernen mit elektronischen Plattformen, in Teams oder in ihrem eigenen Tempo. Doch Strafen, die ins Leere laufen, weil sie keinen Lerneffekt nach sich ziehen oder Schülerinnen und Schüler abwerten, gibt es immer noch. Klein und lächerlich gemacht werden Kinder, wenn die Lehrperson entnervt mit den Augen rollt oder gar ruft: «Jetzt hast du‘s wieder nicht gekonnt!» Auch Nachsitzen bei unerwünschtem Verhalten oder Hausregeln abschreiben sind noch an der Tagesordnung.

Die Psychologin Irina Kammerer leitet den Bereich Beratung und Therapie für Kinder, Jugendliche und Familien am Psychotherapeutischen Zentrum des Psychologischen Instituts der Uni Zürich und hat sich intensiv mit Belohnung und Bestrafung im erzieherischen Kontext auseinandergesetzt. Sie sagt: «Strafen, aus denen ein Kind nichts lernt, ändern sein Verhalten nicht.» Im Gegenteil. Lautet die Botschaft nur «Du kannst es nicht», rutscht höchstens sein Selbstwertgefühl in den Keller.

Blümchen und Smileys

Dasselbe trifft auf Belohnungssyteme zu, die in Primarstufen häufig eingesetzt werden: Punkte, Blümchen oder Smileys zieren die Heften der Kleinen, wenn sie gewissenhaft Hausaufgaben erledigen, pünktlich erscheinen oder ordentlich die Hand aufstrecken. War die Klasse zu laut, ersetzt manche Lehrperson die Sonne auf dem Stimmungsbarometer im Schulzimmer durch dunkle Regenwolken. Kirsten Herger hält von diesen positiven Anreizsystemen nichts. «Belohnungen vorzuenthalten wirkt auf Kinder wie eine Bestrafung», sagt die Dozentin am Institut Vorschulstufe und Primarstufe der PH Bern. Hinzu komme: «Da oft von allen dasselbe Verhalten erwartet wird, machen einige ständig die Erfahrung, dass sie die Ziele nicht erreichen.» Hat Paul jedoch Mühe, sich zu konzentriert, bringt ihn ein trauriges Smiley nicht weiter. Zielführender wäre es zu schauen, was er tatsächlich braucht, um zu arbeiten: Klappt dies etwa besser, wenn er nahe bei der Lehrperson sitzt? Oder lieber weiter weg? Kurz: «Es geht darum, die Ursachen zu erkennen, anstatt ein Verhalten zu unterdrücken», so Herger. Nur das sei nachhaltig. Der individuelle Ansatz möge zeitaufwändig erscheinen, langfristig sei er aber der einzig wirkungsvolle.

Hinzu kommt: Ein Kind, das die Aufgaben nicht gemacht hat oder dauernd seine Sachen vergisst, weiss selbst, dass dies nicht gut ist. Ein trauriges Smiley wirkt da wie Salz in der Wunde: Es verstärkt das ungute Gefühl des Kindes, weckt bei ihm Wut oder Trauer, was letztendlich die Beziehung zur Lehrperson belastet.

«Wir Lehrerinnen und Lehrer kleben oft aus Unsicherheit an Regeln und Vorschriften», sagt Bruno Grossen. Er ist Gesamtschulleiter der Gemeinde Reichenbach im Kandertal BE und hat in seinen Schulhäusern Regeln weitgehend abgeschafft. Stattdessen gibt es nur ein für alle verpflichtendes Prinzip: «Mir häbä Sorg». Bei Konflikten plädiert Grossen für Wiedergutmachung statt Strafe – die sich der Verursacher selbst überlegen muss. So, wie bei jenem Neuntklässler, der einem anderen aus Wut die Nase brach. «Wie bringst du das wieder in Ordnung?», fragte Grossen, als der Schüler geknickt in seinem Büro sass. Im Gespräch zeigte sich, dass der Junge generell schnell rot sieht und sich dabei selbst nicht wohl fühlt. Die gemeinsam gefundene Lösung lautete: Schoggi und eine «Tut mir leid»-Karte für das Opfer, sowie drei vereinbarte Gespräche bei der Schulsozialarbeiterin für den Täter, um am Gewaltthema zu arbeiten.

Sinnvolle Strafen

«Das Spannende ist: Der Junge kommt seither bei jeder Gelegenheit auf mich zu, unsere Beziehung ist wesentlich besser als vorher», sagt Grossen. Genau dies müsse das Ziel sein: «Ich habe eine halbe Stunde investiert, gemeinsam haben wir an der Ursache gearbeitet.» Eine stumpfe Strafe hingegen – wie etwa Nachsitzen oder Laubrechen auf dem Schulhof – wäre nicht nur sinnlos gewesen, sondern hätte womöglich auch zu einem Beziehungsabbruch zwischen Lehrer und Schüler geführt. «Redet miteinander», lautet Grossens Rat. Es gehe gar nicht darum, als Lehrperson stets eine fertige Lösung zu haben; oft finde sich diese besser zusammen mit allen Beteiligten.

Und was macht jener Vater, der sich über die Verwarnung seines Erstklässlers im Zeugnis wundert? Oder die Mutter, deren Tochter bereits zum dritten Mal Nachsitzen muss und den Sinn dahinter nicht versteht? «Nachfragen», findet Psychologin Irina Kammerer. «Es ist wichtig, dass Eltern und Lehrpersonen im Gespräch bleiben.» Auch die Frage: «Was lernt mein Kind daraus?» dürfe gestellt werden.

Alles für einen tollen Schulstart.

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