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Wirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar

«Es wäre gut, wenn wir alle weniger arbeiten»

Die Marktwirtschaft müsse reformiert und erneuert werden – nur so lasse sich das System retten, glaubt Thomas Straubhaar. Der bekannte Schweizer Ökonom plädiert deshalb für ein Grundeinkommen und weitere grosse Reformen.

Text Ralf Kaminski, Benita Vogel
Datum
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Mit einem Grundeinkommen würde die Marktwirtschaft auch für jene wieder attraktiver, die heute kaum noch vom System profitieren, glaubt Thomas Straubhaar. (Illustrationen: VectorStock) 

Thomas Straubhaar, die Schweiz hat das bedingungslose Grundeinkommen 2016 mit 77% der Stimmen deutlich abgelehnt. Warum sollte sie es sich nun anders überlegen?
Weil in der Politik die Extreme stärker werden und die grosse liberale Mitte schwächer. Das zeigt, dass die Marktwirtschaft, der Kern unseres Wirtschaftssystems, bei den Menschen immer weniger Akzeptanz findet. Das Grundeinkommen würde dies ändern.

Weshalb?
Heute haben zu viele den Eindruck, vom aktuellen System nicht mehr zu profitieren – oft zurecht. Wenn sie jedoch jeden Monat bedingungslos einen Grundbetrag zum Leben erhalten und damit auch schwierige Phasen überbrücken können, wird das System auch für sie wieder attraktiver.

Möchtest du weniger arbeiten?

Wie hoch sollte der monatliche Zustupf sein?
Um die 2000 Franken.

Und wie finanzieren wir das?
Problemlos. Das Grundeinkommen benötigt nicht einen einzigen Franken an zusätzlichen Steuern.

Wie das? Je nach Höhe des Grundeinkommens geht man von mehr als 50 Prozent Einkommenssteuern aus, um dies zu finanzieren.
Aber die Steuererhöhung wird ja gleich wieder in Form des Grundeinkommens in vollem Umfang an die Bevölkerung zurückgegeben! Netto ändert sich insgesamt somit rein gar nichts. 

Können Sie das an einem Beispiel aufzeigen?
Nehmen wir mal einen Brutto-Steuersatz von 50 Prozent: Jemand mit  6000 Franken Einkommen pro Monat würde also 3000 Franken Steuern bezahlen. Gleichzeitig erhält er aber 2000 Franken Grundeinkommen – damit beträgt die reale Steuerbelastung noch 1000 Franken oder 16 Prozent. Bei einem Einkommen von 10'000 Franken fallen brutto 5000 Franken Steuern an, netto sind es 3000 Franken oder 30 Prozent. Es findet also gleichzeitig auch eine Umverteilung von Gutverdienern zu weniger gut Verdienenden statt. Deshalb wehren sich vor allem ältere Leute, die in den letzten Jahren gut verdient haben, mit Händen und Füssen gegen einen solchen Wechsel. Die haben viel zu verlieren. 

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(Bild: Christian Augustin)

Ökonom und Autor

Thomas Straubhaar (64) ist Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen der Universität Hamburg. Sein neues Buch «Grundeinkommen Jetzt! Nur so ist die Marktwirtschaft zu retten» wird derzeit breit diskutiert. Der Schweizer Ökonom lebt in Hamburg, ist verheiratet und hat drei Kinder. 
«Grundeinkommen Jetzt!» gibt es auch bei exlibris.ch

Trotzdem muss ich von jedem zusätzlich verdienten Franken die Hälfte abgeben. Wieso soll ich da noch arbeiten?
Es wäre gut, wenn wir alle weniger arbeiten, weil die Wirtschaft wegen der Digitalisierung laufend weniger Menschen braucht. Bestimmte Berufe würden dadurch sogar aufgewertet. Wenn weniger Leute arbeiten, wird ihre Arbeit wertvoller, man muss sie besser bezahlen – oder ersetzt sie durch Roboter, was ja in Branchen mit standardisierter Massenproduktion oder der Reinigung auch nicht schlecht wäre. Vielleicht arbeitet man auch einfach weniger Stunden. Wenn Teilzeit der neue Standard für alle würde, wäre das auch für Frauen ein Vorteil in der Karriereplanung.

Neben der Marktwirtschaft sehen Sie auch den Rechtsstaat und die Freiheitsordnung in Gefahr. Steht es so schlimm?
Wenn polarisierende Parteien und grüne Protestbewegungen Mehrheiten erlangen, wird es immer stärker Richtung staatlich verordneter, paternalistisch von oben gelenkter Politik gehen. Mit Verboten und Askese werden wir Krisen wie den Klimawandel aber nicht bewältigen – was katastrophale Folgen haben könnte. Wir brauchen zwingend innovative Lösungen, wie sie am besten die Marktwirtschaft hervorbringt.

Dennoch scheint Ihre Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft gewachsen – was ist passiert?
Tatsächlich war ich während 30 Jahren fest davon überzeugt, dass die Marktwirtschaft allen von alleine gleichermassen zugutekommt, weil unsere Modelle dies so zeigten. Doch spätestens seit der Finanzkrise 2007 stimmt das nicht mehr: Viele haben nur ein bisschen mehr Geld zur Verfügung, und nur ganz wenige haben viel mehr. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung nun noch verstärkt – wenn auch in der Schweiz weniger ausgeprägt als anderswo. Denken Sie nur daran, wie Studierende ihre typischen Jobs zur Finanzierung ihres Daseins verloren haben und in keiner Weise von der viel gerühmten Kurzarbeitsentschädigung profitieren konnten. Auch deshalb steht die Marktwirtschaft auf dem Spiel. Wir müssen sie retten, und das können wir nur mit beherzten Reformen.

War es ein Schock für Sie, nach 30 Jahren zu merken, dass Sie falsch liegen?
Ja. Und ich habe mich deswegen mit einigen meiner engsten beruflichen Freunde zerstritten, weil sie an den klassischen Modellen der Marktwirtschaft festhalten, obwohl die Daten etwas anderes zeigen.

Und mit dem Grundeinkommen wollen Sie die Marktwirtschaft quasi vor ihr selbst retten? 
Die soziale Verteilung ist der blinde Fleck der Marktwirtschaft – sie hat in dem Bereich schlicht zu wenig zu bieten. Das Grundeinkommen würde dieses Defizit ausgleichen. Gleichzeitig ist es das Instrument mit den geringsten negativen Einflüssen, denn es ist präzis, gerecht und liberal.

Welche anderen Reformen bräuchte es noch neben dem Grundeinkommen?
Eine grosse Steuerreform. Die Individualbesteuerung ist wirklich überfällig. Noch besser wäre eine Wertschöpfungssteuer anstelle des heutigen Systems.

Wie würde das funktionieren?
Egal ob Einkünfte mittels menschlicher Arbeit, automatisiert durch Computer und Roboter oder über Kapital entstehen, alles würde gleich besteuert. 2020 betrug die Wertschöpfung in der Schweiz 706 Milliarden Franken, vor Corona 2019 sogar 727 Milliarden Franken. Wenn man die zu 50 Prozent besteuert, hat man das Geld, um sämtliche staatlichen Leistungen zu finanzieren – oder eben auch ein Grundeinkommen.

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«Klar, ein Grundeinkommen ist teuer. Aber kein Grundeinkommen dürfte noch viel teurer werden», fürchtet Thomas Straubhaar.

Was noch müssten wir reformieren?
Die Bildung. Heute haben Kinder mit gut gebildeten Eltern deutlich bessere Chancen, ebenfalls eine gute Bildung und entsprechende Jobs zu erhalten. Wir müssen deshalb die soziale Durchlässigkeit verbessern. Kinder müssen gefördert werden, unabhängig von Einkommen und Bildungsstatus ihrer Eltern. Auch Menschen, die Teilzeit arbeiten, sich weiterbilden oder beruflich umorientieren wollen, sollten dies tun können, ohne dass das wegfallende Arbeitseinkommen zum Problem wird. Sie müssten sich quasi Zeit kaufen können – und zwar lebenslang.

Ein Grundeinkommen würde das ermöglichen. Gäbe es auch alternative Wege?
Bildungsgutscheine zum Beispiel. Aber mit einem durch eine Wertschöpfungssteuer finanzierten  Grundeinkommen hätte man eine patente ganzheitliche Lösung für alles, alternativ braucht es zahllose kleine Massnahmen und Systeme, um alles ähnlich gut abzudecken. Das wäre ein Flickwerk.

Aber all das hilft nicht, wenn wir die Klimakrise nicht in den Griff bekommen?
Richtig. Und das wird uns eben nur mit Hilfe der Marktwirtschaft gelingen. Wir können doch von den Milliarden von Menschen in Asien oder Afrika nicht verlangen, auf das zu verzichten, was wir paar Millionen Europäer und Amerikaner schon längst haben. Stattdessen müssen wir mithelfen, dass dort neue, CO2-neutrale Technologien zum Einsatz kommen. Das ist der um Dimensionen grössere Beitrag, den wir leisten können, als weniger zu heizen oder mit dem Rad statt dem Auto zu fahren. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns mit mutigen Reformen die Akzeptanz der Marktwirtschaft erhalten. 

Corona hat bereits einiges verändert – was wird bleiben?
Vieles. Kriege, Krisen und Katastrophen – so furchtbar sie sind – führen immer zu Innovationsschüben. Die Pandemie hat sich abzeichnende Veränderungen beschleunigt. Geradezu ein Erweckungserlebnis waren die letzten Monate für die Digitalisierung und die Auswertung von Daten für wirtschaftliche oder andere Nutzung. Homeoffice, Online-Treffen und -Shopping werden nicht mehr verschwinden. Unterrichtsformen werden sich verändern. Geschäftsreisen wird es nur noch geben, wenn es wirklich wichtig ist.

Die letzten Jahre waren aber auch geprägt von Handelskonflikten, Strafzöllen, Protektionismus, Sanktionen. Hat die Globalisierung ihren Zenit überschritten?
Ganz klar. Produkte im Ausland herzustellen, war lange billiger, verursachte jedoch häufig menschenunwürdige Zustände oder Umweltschäden. Weil das immer weniger akzeptiert wird, steigen die Produktionskosten nun auch in den bisherigen «Billiglohnländern».  So haben sich die Vorteile der Arbeitsteilung deutlich reduziert, und es dürfte bald wieder mehr Fertigungsstätten bei uns geben. Hinzu kommt die Deglobalisierung durch Technologie: Früher hat man Bauteile aus aller Welt physisch importiert, heute lädt man nur noch schnell ein paar Daten runter – und druckt sie auf dem 3D-Drucker selber aus.

Was löst die Globalisierung ab?
Die Glokalisierung, die das beste aus zwei Welten kombiniert. Wissen und Technologie wird man global nutzen und austauschen, aber lokal anwenden und produzieren. 

Zum Beispiel?
Man hat jederzeit und überall Zugang zu den besten Herzspezialisten der Welt, kann sie sogar online live für eine Operation dazu schalten. Aber das nötige Implantat wird direkt lokal im Nebenraum massgeschneidert hergestellt und gleich passgenau eingesetzt.

Neuer Anlauf für ein Grundeinkommen in der Schweiz

Die erste Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist 2016 an der Urne gescheitert. Seit September läuft nun die Unterschriftensammlung für die Initiative «Leben in Würde – Für ein finanzierbares bedingungsloses Grundeinkommen». Dahinter stehen unter anderem der ehemalige Bundesratssprecher Oswald Sigg und der Menschenrechtsanwalt Philip Stolkin. Höhe, Bezug und Finanzierung des Grundeinkommens sollen durch das Parlament geregelt werden. Die Einnahmen dafür sollen aber laut dem Initiativkomitee primär von den bestehenden Steuereinnahmen und Sozialwerken kommen. Ausserdem sollen der Finanzsektor sowie Tech-Unternehmen und digitale Grosskonzerne Geld beisteuern.

In der SRF-Sendung Eco-Talk hat Thomas Straubhaar das Grundeinkommen kürzlich mit der Ökonomin Monika Bütler diskutiert – zum Beitrag geht es hier.

Trotz aller Krisen der letzten Jahre boomen die Börsen. Weshalb und wie lange noch?
Sie boomen mangels Alternativen. Weil die Zinsen so tief sind, haben viele Leute mit Vermögen haben gar keine andere Wahl als ihr Geld in Aktien und Immobilien zu stecken. Also steigen die Börsenkurse und die Häuserpreise. Und solange genug Investoren daran glauben, dass es funktioniert, wird es das auch.

Wie lange hält dieser Glaube noch?
Klar ist: Es kann nicht immer nur weiter so aufwärts gehen. Das widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Und gleichzeitig ist sehr unwahrscheinlich geworden, dass heutige Junge sich mit 30 ein Haus leisten können wie einst ihre Eltern.

Gibts denn eine gute Alternative zur Börse?
In Bildung investieren – die eigene und die der Nachkommen. Das grösste Vermögen befindet sich zwischen den Ohren und nicht im Portemonnaie! Bildungsinvestitionen haben eine Rendite im hohen einstelligen Bereich, man hat dadurch viel mehr und interessantere berufliche Möglichkeiten. Und wer es sich leisten kann, kauft selbst genutzten Wohnraum. Der behält seinen Wert als Eigenheim auch nach einem Immobilien- oder Börsen-Crash. Und niemand kann einen rausschmeissen.

Im Buch, das Sie jüngst veröffentlicht haben, machen Sie deutlich, dass Sie unsere Lage für sehr ernst halten…
Davon bin ich überzeugt. Wir erleben derzeit einen gesellschaftlichen Zerrüttungsprozess. Auch ein Zivilisationsbruch wäre möglich, denn es kommt viel zusammen: politisch, wirtschaftlich und klimatisch. Deshalb wäre es klug, präventiv zu handeln – das ist billiger als nachträglich zu reparieren. Klar, ein Grundeinkommen ist teuer. Aber kein Grundeinkommen dürfte noch viel teurer werden. Und ein bisschen Zeit haben wir ja noch. Allerdings braucht ein solcher Systemwechsel auch mindestens eine Generation. 

Gibt es etwas, das Sie optimistisch stimmt, dass wir die Kurve noch kriegen könnten?
Ja, die Jungen. Meine Studierenden jedenfalls finden das Grundeinkommen eine vielversprechende Idee. Und viele, die am Status Quo festhalten wollen, werden früher oder später wegsterben. Wenn sich die Jungen und Frauen, die am meisten von einem Systemwechsel profitieren würden, motivieren lassen und sich engagieren, wird Bewegung in die Sache kommen. Das hat sich schon bei der Klimapolitik gezeigt.

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