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Long Covid

Wenn Corona einfach nicht aufhört

Schwindel, Kopfschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten – immer mehr Menschen in der Schweiz leiden an Long Covid.  Eine Bäuerin, ein Geschäftsführer und eine Pflegefachfrau erzählen.

Text Rahel Schmucki, Monica Müller, Dario Aeberli
Fotos Desirée Good
Datum
Bäuerin Lissy Küpfer-Denzler (34) kommt heute nicht mehr ohne fremde Hilfe aus.  «Plötzlich war ich niemand mehr», sagt Küpfer. 

Bäuerin Lissy Küpfer-Denzler (34) kommt heute nicht mehr ohne fremde Hilfe aus.  «Plötzlich war ich niemand mehr», sagt Küpfer. 

Schon die Adresse klingt wie aus einem Märchen: Ochsenwald 120 in Obergoldbach BE. Und erst die Umgebung: Verschneite Hügel, rauchende Kamine, Stille. Durch das Wohnzimmerfenster sieht man an guten Tagen die Berner Alpen. Doch heute ist kein guter Tag. Auch nicht für Lissy Küpfer, die hier wohnt. Sie hat Long Covid. So nennt man starke Beschwerden nach einer Coronaerkrankung. Was sie gerade durchmacht, ist kein Märchen, eher ein Drama. Die 34-jährige Bäuerin sitzt am Esstisch, den Kopf auf beide Hände gestützt, und spricht mit ihrer Mutter. Zwischen den Sätzen atmet Küpfer tief ein und aus. Sie macht ­einen Scherz, zieht ihre Mundwinkel nach oben, lässt sie gleich wieder ­fallen und reibt sich die Augen.

Hast du auch Long Covid?

«Es ist schlimm, sie so zu sehen», sagt Küpfers Mutter, Sonja Denzler. Noch vor einem Jahr sei ihre Tochter voller Energie, Ideen und Lebensfreude gewesen. Habe gearbeitet, ­getan, gemacht. Dann kam Weihnachten 2020. Lissy Küpfers Ehemann wurde positiv auf Corona getestet. «Das kam aus heiterem Himmel», sagt sie. «Wir leben sehr abgelegen, treffen Leute eigentlich nur an der frischen Luft.» Wo er sich angesteckt haben könnte, wissen sie nicht. Fünf Tage nach ihrem Mann entwickelte auch Lissy Küpfer Covid-Symptome. Fieber, Geschmacksverlust, Müdigkeit. Testen liess sie sich allerdings nicht. «Das war nicht möglich. Wir ­waren mit vier Kindern in Quaran­täne, und das nächste Testcenter war damals in Bern – mit dem Auto 30 Minuten von uns entfernt», sagt sie.

Schon nach dem Aufstehen erschöpft

Nach fünf Tagen begannen ihre Coronasymptome abzuklingen. Es kam zwar vor, dass sie hin und wieder nicht schmeckte, was sie zu Mittag ass, doch grundsätzlich ging es ihr langsam besser. Im März aber kam der Rückfall. Wenn Küpfer morgens um 5 Uhr im Stall die 28 Kühe fütterte und die Kinder um 7.30 Uhr in die Schule schickte, musste sie sich danach vor Erschöpfung mehrere Stunden schlafen legen. Bevor die Kinder mittags nach Hause kamen, reichte die Energie gerade noch, um eine ­Pizza in den Ofen zu schieben. «Das kannte ich nicht von mir. Bis dahin habe ich einfach immer funktioniert. Und dann war ich plötzlich niemand mehr», sagt Lissy Küpfer.

Extreme Erschöpfung und Geschmacksverlust sind nur zwei der häufigsten Symptome von Long ­Covid. In der Schweiz dürften Zehntausende an milderen bis sehr schweren Langzeitfolgen nach einer Infektion leiden. Genaue Zahlen dazu sind nicht bekannt. Dazu zählen Erwachsene, Jugendliche und Kinder, die sich auch mehr als drei Monate nach ihrer Covid-19-Infektion noch immer nicht vollständig erholt haben. Einige davon leiden bereits seit eineinhalb Jahren an Symptomen. Laut BAG wird jeder Fünfte der positiv Getesteten auch nach drei Monaten noch von Symptomen geplagt. Etwa jede dritte Person mit einem schweren Verlauf leide unter Langzeitfolgen. Ebenso jede sechste Person mit einem milden oder asymptomatischen Verlauf. ­Frauen trifft es deutlich häufiger als Männer. Manche der Betroffenen können nicht mehr voll arbeiten, haben keine Kraft mehr für Familienleben, Haushalt und Freizeitaktivitäten.

Dem Arzt blieb nur eine Erklärung

Später bekam Lissy Küpfer eine Migräne, die nicht enden wollte. Sie ging ins Spital und erhielt Medikamente gegen die Schmerzen. Schon wenn sie früher gestresst war, bekam sie hin und wieder Migräne. Doch nie so lang anhaltend. Nach dem Spitalaufenthalt liess sie sich von ihrem Hausarzt komplett durchchecken. Blutwerte, Vitaminhaushalt, Herz und Lunge – alles war in Ordnung. «Es ist verrückt, eigentlich bin ich ­gesund. Ich dachte schon, ich spinne.»

Sie setzte sich unter Druck, versuchte ihren Körper zu ignorieren – ver­geblich. Ihrem Arzt blieb nur eine ­Erklärung: Long Covid. «Das war eine ­riesige Erleichterung für mich. Ab diesem Zeitpunkt wusste ich: Ich bin krank, es geht einfach nicht», sagt sie. Da die Krankheit sehr neu ist, weiss man noch sehr wenig darüber. Long Covid wird bisher nur im Ausschlussverfahren diagnostiziert. Auch mögliche Behandlungsmethoden sind noch kaum erforscht, ein Gegenmittel existiert noch nicht. 

Ohne Hilfe ginge es nicht

Lissy Küpfers Mutter trägt das Geschirr vom Esstisch zum Spülbecken. Auch die junge Bäuerin musste sich nach der Long-Covid-Diagnose Hilfe holen. Bei der Mutter, die im Haushalt hilft, Wäsche wäscht, aufräumt. Bei der Schwiegermutter, die die Holzheizung in Gang hält. Bei den Geschwistern ihres Mannes, die im Stall aushelfen. Bei der Schwester, die auf die Kinder aufpasst. Ausserhalb der Familie wissen jedoch nur wenige von Küpfers Long-Covid-Diagnose. «Es ist nicht wie bei einem gebrochenen Fuss, wenn alle den Gips sehen», sagt sie. Wenn sie jemand frage, wie es ihr gehe, antworte sie gewohnheits­halber mit «es geht». «Wie es mir wirklich geht, sage ich selten.»

Im Sommer ging es Lissy Küpfer tatsächlich wieder besser. Es gab ­öfters gute Tage, an denen sie mit den Kindern bis 21 Uhr spielen konnte, ohne lange vorher schon einzuschlafen. Sie fühlt sich fit genug, um sich gegen Corona impfen zu lassen. Ihr Mann und ihr ganzes Umfeld, bis auf die Kinder, haben das bereits getan. Doch nach dem ersten Piks mit dem Impfstoff von Moderna begann alles wieder von vorn. Selbst Kaffee half nicht. «Nach einer Tasse konnte ich mich hinlegen und mehrere Stunden schlafen», sagt Küpfer. Vor Corona hatte sie sehr stark auf Koffein reagiert. «Früher trank ich um 15 Uhr den ­letzten Kaffee, weil ich sonst abends nicht einschlafen konnte.»

Long Covid ist bisher kaum Thema

Bis heute geht es Lissy Küpfer nicht viel besser. Auf die zweite Impfung verzichtet sie vorerst. Sie möchte sie nachholen, wenn sie wieder auf dem Damm ist. Nach einem Antigentest sollte sie aber trotzdem bald ein ­Covid-Zertifikat bekommen. Im ­Moment mache man in der Schweiz ein «riesen Gstürm» um die Leute, die noch nicht infiziert waren, sagt Lissy Küpfer. «Über Menschen wie mich, die Corona hatten, spricht man jedoch kaum.» ­Da­rum möchte sie ihre Geschichte ­er­zählen. Wenn Long Covid eine junge Frau ohne Vorerkrankungen treffen könne, sei das bei allen möglich.

Ein Geschmack wie Kompost

Für Mirco Casorelli, 35,  schmecken Gurken, Fleisch oder auch Orangen heute wie Kompost. 

Für Mirco Casorelli, 35,  schmecken Gurken, Fleisch oder auch Orangen heute wie Kompost. 

Mirco Casorelli (35) sass bei seiner Mutter am Esstisch und nahm eine Gabel Salat in den Mund. «Ich habe den Bissen gleich wieder ausgespuckt und sie gefragt, ob die Gurken verdorben seien», erinnert er sich. Erst ein paar Tage später stiess Casorelli bei ­einer Google-Suche auf die Diagnose Kakosmie. Das ist eine Veränderung in der Geruchswahrnehmung und ein häufiges neurologisches Symptom der Corona-Erkrankung. «Gurken, Fleisch oder auch Orangen schmecken für mich noch immer wie Kompost. Auch Parfüm oder Duschgel stinken seither für mich», sagt er.  

Begonnen hatte es ein paar Wochen nach Casorellis Corona-Infek­tion im vergangenen Juli. «Ich habe mich nicht impfen lassen, da ich ­diverse ­Allergien habe und mich vor Nebenwirkungen fürchtete.» Im Sommer ­erwischte es ihn dann, und er lag zwei Wochen mit Fieber, Kopfschmerzen, Schwindel und Husten im Bett. Anschliessend erschien alles wieder ­normal. Aber nach etwa zwei Wochen kamen Kopfschmerzen und Schwindel wieder zurück. Müdigkeit, Konzen­­­tra­tionsschwierigkeiten und Panik­attacken kamen hinzu. «Man schickte mich einen Monat lang wegen der Panikattacken in die Reha nach Davos.» Leider ohne Erfolg. Da Casorelli schon vorher in psychologischer Behandlung war, durchlief er nach der Reha eine Reihe von Abklärungen, weil man hinter den Problemen eine psychische Ursache vermutete. «Aber es ging mir nicht besser, und man konnte keinen Grund dafür finden», erzählt Casorelli. Erst nach ein paar Monaten kam sein Arzt zum Schluss, dass es sich bei allen Symptomen höchstwahrscheinlich um Long Covid handle.

Eine Art Nebel im Gehirn

Vor seiner Erkrankung arbeitete Casorelli 50 Prozent im Kundendienst einer grossen Telekomfirma und war 50 Prozent im Restaurant seines Vaters als stellvertretender Geschäftsführer angestellt, wo er alle möglichen Aufgaben von Büro- bis Putzarbeiten erledigte. «Bis heute bin ich 100 Prozent krankgeschrieben. Wegen des Schwindels kann ich oft nur liegen und auch keine Verantwortung mehr für meine kleine Tochter übernehmen. Geschweige denn mit dem Hund spazieren gehen.» Früher ging er jeden Tag ins Fitnessstudio, jetzt kann er nicht einmal mehr eine Hantel hochheben, ohne dabei Herzrasen zu bekommen. 

Leiden Sie auch an Long-Covid?

Sind Sie auch von Long Covid betroffen? Hier finden Sie Hilfe:

Hinzu kommt bei Casorelli eine Art Nebel im Gehirn, auch «Brain Fog» genannt. Ebenfalls eine häufige Langzeitfolge von Corona.

Sie äussert sich bei ihm vor allem in Konzentra­tions­schwierigkeiten und Vergesslichkeit. «Wenn ich ein Buch lesen will, komme ich nicht vom Fleck. Nach zwei Sätzen weiss ich nicht mehr, was ich vorher gelesen habe.» Casorellis Vergesslichkeit geht so weit, dass er in den Ferien in einem Hotel 1000 Franken ­irgendwo hingelegt hat und sich anschliessend nicht mehr erinnern konnte, wo. Das Geld blieb verschwunden.

«Für mich ist das Schlimmste, dass der Schwindel und die Kopfschmerzen nicht besser werden», sagt Casorelli und klingt frustriert. Als Nächstes steht bei ihm wahrscheinlich eine Reha in einer Klinik in Gais AR an, die auf Long Covid spezialisiert ist. «Hoffentlich hilft mir das.»

Schätzungen zufolge leiden 10 bis 20 Prozent der Corona-Infizierten später an Long Covid. Davon sind schätzungsweise 10 bis 20 Prozent so stark betroffen wie Lissy Küpfer, ­Mirco Casorelli und Manuela Bieri.

45 Minuten spazieren sind schon viel

Manuela Bieri, 41, Pflegefachfrau. leidet seit einem Jahr an Covid. Sie wünscht sich nicht sehnlicher, als ihr Leben wieder normal zu leben. 

Manuela Bieri, 41, Pflegefachfrau. leidet seit einem Jahr an Covid. Sie wünscht sich nicht sehnlicher, als ihr Leben wieder normal zu leben. 

Manuela Bieri (41) arbeitete als Pflegefachfrau auf einer Überwachungs­station für Patienten mit akuten Herzproblemen, als sie sich im Spital mit Corona ansteckte. Es war die zweite Welle im Herbst 2020, noch war niemand geimpft. Die Symptome waren mild, keinen Moment dachte sie, dass die Folgen der Erkrankung ihr Leben noch ein Jahr später ­bestimmen würden. Zweieinhalb ­Wochen nach ihrer Infektion stand Manuela Bieri wieder in der Über­wachungsstation der Kardiologie und betreute Schwerkranke.

Sie fühlte sich müde und angeschlagen, ging aber davon aus, dass sie sich bald erholen würde. Vier Wochen später waren die Symptome zurück. Zu Fieber und Husten kam Atemnot hinzu. Da Manuela Bieri immer wieder Einsätze fürs Rote Kreuz geleistet hatte, lag die Vermutung nahe, sie könnte sich im Südsudan oder in ­Bangladesch eine Infektion ein­gefangen haben. Doch bei den Unter­suchungen auf tropische Krankheiten wurde nichts gefunden. Long Covid war damals kaum bekannt.

Manuela Bieris Lunge geht es mittlerweile etwas besser, dafür dominiert eine lähmende Müdigkeit, Fatigue ­genannt, ihren Alltag. An einem guten Tag kann sie 45 Minuten langsam spazieren gehen. An einem schlechten schafft sie es nicht einmal, ihre Wohnung in Bern zu verlassen. «Körperlich fühle ich mich die ganze Zeit, als wäre ich auf der Flucht.» In der dreiwöchigen Reha für Long-Covid-Patienten ist sie physisch zwar nicht leistungsfähiger geworden, aber sie hat gelernt, besser mit der Krankheit ­umzugehen. «Wir dürfen nicht an unsere Grenzen gehen.»

Wäre sie gesund, wollte sie einfach ihr Leben leben

Immer wieder spricht sie von «uns», und meint damit auch andere Long-Covid-Kranke. 2000 von ihnen sind wie sie Mitglied des Vereins Long Covid Schweiz. Über eine Facebook-Gruppe tauschen sie sich aus. «Das gibt Halt», sagt sie. Im Vorstand setzt sie sich für eine Dia­gnose von Long Covid in der Schweiz ein. Und dafür, dass erforscht wird, wie man Betroffenen helfen kann. Dass Patienten wie sie in keiner ­Sta­tistik des Bundes vorkommen, setzt der Pflegefachfrau zu. «Auch wir sind Opfer der Pandemie.»

Manuela Bieri schätzt die Unterstützung ihres Umfelds sehr. Ihr Vater bringt sie zu ihren Terminen. Auto­ fahren will sie wegen ihrer Schwindelanfälle und Konzentrationsstörungen nicht. Ihr Freund kauft für sie ein und bekocht sie. Eine Putzhilfe reinigt ihre Wohnung. «Ich muss machen, was mir guttut», sagt sie. Dazu gehört auch, dass sie in einem Bürojob von 10 bis 20 Prozent Pflegefachkräfte vermittelt.

Wäre sie wieder gesund, würde sie vor allem eins wollen: Ihre Kolleginnen und Kollegen in der schwierigen Situation auf den Intensivstationen unterstützen. Und mit dem Rucksack in die Ferien fahren. Sich mit den Kindern ihres Freundes eine Schneeballschlacht liefern. Ihr Leben leben.

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