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Pflege zuhause

Egal wie abgelegen, die Spitex kommt

Geht die Spitex eigentlich überall hin? Ja – wir haben eine Mitarbeiterin bei der Arbeit ganz hinten in einem Bündner Hochtal auf gut 2000 Metern begleitet.

Text Ralf Kaminski
Fotos Samuel Trümpy
Datum
Die Anreise durch die verschneite Landschaft zieht sich hin.

Die Anreise durch die verschneite Landschaft zieht sich hin.

Der Einsatz beginnt mit Eiskratzen. Cornelia Michael hat gerade alles Material in ihr Auto vor der Zentrale der Spitex Viamala in Thusis GR geladen und muss nun erst mal die Scheiben vom Eis befreien. Links und rechts sind drei Mitarbeiterinnen mit Ähnlichem beschäftigt. Es ist kurz nach 7 Uhr morgens, und sie alle schwärmen nun aus in die Dörfer der Region Mittelbünden, um Menschen bei der täglichen Pflege oder medizinischen Behandlungen zu unterstützen.

Die 50-jährige Pflegefachfrau Michael hat heute einen besonders langen Weg – es geht zu Heidi Heinz nach Avers, ins höchstgelegenste, ganzjährig bewohnte Dorf Europas auf 2100 Metern. Die letzten Tage hat es dort heftig geschneit, heute jedoch ist schönes Wetter angesagt. «Und die Strasse wird normalerweise sehr gut geräumt, es sollte eigentlich keine Probleme geben.»

Dennoch dauert die Fahrt bei winterlichen Strassenverhältnissen mindestens 45 Minuten, manchmal auch länger. «Es kommt vor, dass plötzlich ein Hirsch mitten auf der Strasse steht.» Eine Kollegin von ihr sass nach einem Einsatz auch schon mal ein paar Stunden in Avers fest, weil ein Schneerutsch die Strasse blockiert hatte.

Im Sommer schon angenehmer

Die Fahrt heute verläuft reibungslos – mehr noch: die Morgenstimmung in der verschneiten, zerklüfteten Berglandschaft ist wunderschön. «Ich fahre gerne Auto, und die Strecke ist wirklich hübsch, aber im Sommer ist es schon angenehmer. Jetzt ist es morgens und abends meist dunkel, und wenn dann noch Schneegestöber hinzukommt, sieht man oft nur wenige Meter weit.» 

Spitex-Mitarbeiterin Cornelia Michael auf dem Weg zur ersten Klientin.

Spitex-Mitarbeiterin Cornelia Michael auf dem Weg zur ersten Klientin.

Cornelia Michael ist seit fünf Jahren bei der Spitex Viamala im Einsatz, in einem 30%-Pensum. Daneben hilft sie auf dem Bauernhof der Familie in Donat mit und kümmert sich um die fünf Kinder. «Langweilig wird es mir nie», sagt sie und lacht. Früher arbeitete sie im Spital, aber die Spitex-Einsätze sind flexibler planbar, und es schleicht sich weniger Routine ein. «Wir wissen zwar am Vorabend, wie unser Einsatzplan aussieht, aber es kann schon immer Überraschungen geben. Ganz genau weiss man nie, was einen vor Ort erwartet.»

Jeden Tag im ganzen Land unterwegs

Spitex Schweiz besteht aus rund 500 lokalen Organisationen, darunter die Spitex Viamala in Thusis. Landesweit sind täglich über 40’000 Mitarbeitende im Einsatz, um Klientinnen und Klienten zu Hause zu betreuen. Pro Jahr kümmert sich die Nonprofit-Organisation um rund 327’000 Personen, ein Drittel davon ist über 80 Jahre alt. Finanziert werden die Einsätze weitgehend über die Krankenkasse sowie Gemeinden und Kantone.

Bei der letztjährigen Weihnachtsaktion von Migros Engagement in Kooperation mit Spitex Schweiz erhielten 33’171 Spitex-Klientinnen und Klienten via online-Plattform der Migros eine Weihnachtskarte von Menschen aus der Bevölkerung, die ihnen damit eine Freude machen wollten. 88 Prozent der Absendenden haben dabei ihre Adresse angegeben und so die Option für einen weiteren Briefwechsel eröffnet. 120 Spitex-Organisationen waren an der Aktion beteiligt, auch die Spitex Viamala.

Michael arbeitet immer freitags, ab und zu ergänzt mit Wochenendschichten. Heute geht es, wie in den letzten Wochen üblich, als erstes zu Heidi Heinz – derzeit die Klientin der Spitex Viamala, die am weitesten weg wohnt. Die 84-jährige frühere Bäuerin war im November beim Einsteigen in den Bus ausgerutscht und verletzte sich am Bein. Nach einem Spitalaufenthalt durfte sie kurz vor Weihnachten zurück in ihr Haus nach Avers Cresta und wird seither jeden Morgen und Abend von der Spitex besucht. Am Freitagmorgen in der Regel von Cornelia Michael.

Michael erneuert den Verband bei Heidi Heinz im Wohnzimmer.

Michael erneuert den Verband bei Heidi Heinz im Wohnzimmer.

Sie hilft ihr beim Aufstehen und Duschen, dann die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Dort verbindet sie ihr Bein neu. Die beiden sind sehr vertraut miteinander. Michael war bereits vor fünf Jahren erstmals bei der Familie im Einsatz, als Heinz’ Mann im Sterben lag. «Im Laufe der Jahre habe ich hier in Avers schon fast in jedem Haus mal jemanden betreut.» Sie versorgt die Wunden am Bein der alten Dame, fragt nach, ob sie Schmerzen hat und plaudert auch sonst ein bisschen mit ihr.

Eigentlich noch sehr selbständig

Heidi Heinz wuchs ursprünglich in Basel auf, kam aber in den Ferien ab und zu in die Gegend und half dann einen Sommer beim Heuen mit. Prompt verliebte sie sich und zog nach der Hochzeit 1968 in das Bündner Hochtal. Heute wohnt sie dort zusammen mit ihrem Sohn, der sich um den Hof kümmert, aber im Winter auch im Tourismus mitarbeitet. «Das sind häufig 12-Stunden-Tage», erzählt sie. Heinz war vor dem Unfall noch sehr selbständig und plant, dies auch weiterhin zu sein. Abends kocht sie jeweils für sie beide, auch jetzt. Derzeit kann sie wegen der Treppen jedoch nicht aus dem Haus, die Einkäufe macht deshalb jemand aus dem Dorf für sie.

Heidy Heinz ist froh, dass sie bald wieder selbstständiger sein wird.

Heidy Heinz ist froh, dass sie bald wieder selbstständiger sein wird.

Die beiden Frauen sind sich einig, dass die Wundheilung auf guten Wegen ist – die Abendeinsätze der Spitex braucht es vielleicht schon bald nicht mehr. Und ab März, wenn alles gut geht, braucht es gar keine Unterstützung mehr. Dann kann Heidi Heinz endlich wieder alleine aufstehen und zu Bett gehen, denn das eine passiert derzeit für ihren Geschmack etwas zu spät und das andere etwas zu früh. «Ich lese dann halt im Bett noch.» Aus dem abseits gelegenen Dorf wegziehen, in ein Altersheim, das kann sie sich nicht vorstellen. Nach einem Spitalaufenthalt letztes Jahr musste sie «zur Erholung» mal vier Wochen in ein solches Altersheim – und war froh, dann wieder nach Hause zu können.

Viele Freiheiten

Der Spitex-Einsatz dauert rund 50 Minuten, also etwa halb so lang wie die gesamte An- und Rückfahrt. Am Ende notiert Cornelia Michael in der elektronischen Pflegedokumentation, was sie gemacht hat, damit die Mitarbeiterin, die abends kommt, auf dem neusten Stand ist. Dann verabschieden sich die beiden voneinander. Ihr nächster Klient ist in Andeer, zurück Richtung Thusis, dieser bekommt aber nur eine Spritze, ein kurzer Einsatz.

Als sich Cornelia Michael auf den Weg zum nächsten Klienten macht ,erstrahlt Avers Cresta im Sonnenlicht.

Als sich Cornelia Michael auf den Weg zum nächsten Klienten macht, erstrahlt Avers Cresta im Sonnenlicht.

«Aber auch bei kurzen Einsätzen bleiben wir ab und zu länger, weil diese Leute oft einsam sind und sich freuen, wenn jemand zum Reden vorbeikommt», erzählt sie. Meist besucht sie sieben bis acht Personen pro Freitag. Und kommt dabei manchmal auch in familiäre Situationen rein, die belastend oder schwierig sind. «Das kann einen schon beschäftigen, aber normalerweise kann ich recht gut abschalten.»

Und alles in allem macht ihr die Arbeit viel Freude. «Wir sind sehr unabhängig und mit vielen Freiheiten unterwegs. Ab und zu kommt es auch vor, dass man nach dem letzten Einsatz des Morgens gleich direkt auf die Skipiste gehen kann, wenn der Ort gerade passt.»

 

 

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