Wie geht es den Tibeterinnen und Tibetern in der Schweiz?
Den meisten geht es gut. Vor allem jenen, die schon in den 1960er-Jahren gruppenweise gekommen sind, sowie deren Nachkommen. Die meisten, die hier geboren sind, konnten sich ein gutes Leben in der Schweizer Mittelklasse aufbauen. In den letzten 20 Jahren sind aber zahlreiche weitere Tibeterinnen und Tibeter als Einzelpersonen in die Schweiz geflüchtet. Viele von ihnen arbeiten in Restaurants, in der Pflege oder in Reinigungsjobs und haben nur ein bescheidenes Einkommen. Und einige stecken unter schwierigen Umständen in langwierigen Asylprozessen.
Wie viele Personen sind das?
Wir schätzen, dass es derzeit rund 250 tibetische Sans-Papiers gibt. Viele von ihnen sind jung. Und sie dürfen weder arbeiten noch die Sprache lernen noch an Anlässen und Feiern der tibetischen Gemeinschaft teilnehmen, weil sie sich im Land nicht frei bewegen dürfen. Das erschwert es uns, sie zu unterstützen und in unsere Gemeinschaft zu integrieren – geschweige denn in die Schweizer Gesellschaft. Wir versuchen zu helfen, haben aber als Nonprofit-Organisation keinen grossen finanziellen Spielraum.
Aber insgesamt fühlt sich die tibetische Gemeinschaft gut akzeptiert?
Ja. Das haben wir auch der ersten Generation zu verdanken, die hier ankam. Sie hat sich beispielhaft verhalten, hart gearbeitet und sich gut integriert. Allerdings gibt es heute auch neue problematische Entwicklungen für unsere Gemeinschaft.
Nämlich?
Wir hören immer wieder von Begegnungen mit Chinesen, die versuchen, Einzelne in ihrem Sinne politisch zu beeinflussen und unsere Gemeinschaft zu spalten. Sie bieten dafür sogar Geld an; das macht uns ernsthafte Sorgen. Viele getrauen sich auch nicht, hier an politischen Demonstrationen teilzunehmen. Denn oft mischen sich chinesische Spione in die Menge und machen Fotos – in der Folge büssen dann die Verwandten in Tibet. Viele vermeiden deswegen auch jeglichen Kontakt mit Familienmitgliedern dort, auch ich. Das Risiko, dass sie darunter leiden, ist einfach zu hoch.
Wie beurteilen Sie den Umgang der Schweizer Regierung mit Ihrer Gemeinschaft?
Alles in allem ist es okay. Allerdings gibt es ab und zu Probleme mit Reisedokumenten. Einige Behörden verlangen dafür bestimmte Papiere von der chinesischen oder indischen Botschaft, was immer wieder zu Komplikationen führt und am Ende Reisen erschwert oder verunmöglicht. Ausserdem tun sich viele schwer, dass in offiziellen Schweizer Dokumenten als Herkunftsland heute nur noch «China» steht und Tibet gar nicht mehr erwähnt wird.
Würden Sie sich erhoffen, dass die Schweiz gegenüber China entschiedener auftritt?
Ich würde das sogar erwarten. Die Schweiz steht für Freiheit und Demokratie. Es ist in Ordnung, dass sie mit China Geschäfte macht, aber sie sollte das nicht auf Kosten der Menschenrechte tun. Umso mehr als über die Hälfte der Tibeter hier auch einen Schweizer Pass haben.
Fühlen sich denn die meisten trotzdem noch verbunden mit ihrer alten Heimat?
Ja, diese Verbindung ist noch immer stark, auch unter den Jungen. Wir sehen es auch als unsere Aufgabe, die tibetischen Traditionen zu erhalten und jeweils der nächsten Generation weiterzugeben. Bisher gelingt uns das recht gut, scheint mir. Nicht alle Kinder besuchen die tibetischen Sprachschulen, aber sehr viele. Das ist umso wichtiger, weil China es den Schulen in Tibet inzwischen verboten hat, tibetisch zu lehren.