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Modelleisenbahnen

Auch mit 94 geht sie täglich ins Geschäft

Seit bald 60 Jahren führt Margrit Neisser in Zürich ein Modelleisenbahngeschäft. Heute ist sie eine Institution in Sachen Schienen, Schleifer und Spurweiten. Ans Aufhören denkt sie nicht.

Text Flavian Cajacob
Fotos Michele Limina
Datum
Margrit Neisser, aufgenommen am 8. September 2022 in ihrem Laden in Zürich. Ihr Fachgeschäft ist längst eine Pilgerstätte für ferrophil veranlagte Zeitgenossen.

Margrit Neisser, aufgenommen am 8. September 2022 in ihrem Laden in Zürich. Ihr Fachgeschäft ist längst eine Pilgerstätte für ferrophil veranlagte Zeitgenossen.

Tagwache ist in der Regel um sechs. Dann ein paar Gymnastikübungen, danach Frühstück. ­Gegen halb zehn geht es ins Geschäft. Eine halbe Stunde später öffnet Margrit Neisser ihren Laden an der Birmensdorferstrasse 38, ganz in der Nähe des Bahnhofs Wiedikon. «Die gute Adresse für Z, N, H0, 0, LGB» steht da auf dem Schild über der Tür geschrieben.

Was für Laien kryptisch klingt, zaubert manch gestandenem Mann ein seliges Lächeln ins Gesicht. «Zu mir kommen sie alle, die kleinen Jungs, die Teenager, die älteren Herren, die Väter mit ihren Söhnen – und ab und zu bringen Männer sogar ihre Frau mit», schmunzelt die rüstige Seniorin und dreht am Transformator, der die Teststrecke mit Strom versorgt. «Modelleisenbahnen finden eben in allen Generationen ihre Anhänger, und das quer durch sämtliche Gesellschaftsschichten.» Vom Kindergärtler bis zum emeritierten Professor, vom Tessiner oder Bündner über den Romand bis zum Deutschschweizer. Manchmal reisen sie auch extra aus dem Ausland an. Margrit Neissers Fachgeschäft ist längst eine Pilgerstätte für ferrophil veranlagte Zeitgenossen.

Schnurren, betören, Funken schlagen

Natürlich kann man heutzutage ganze Schienennetze am Computer verlegen und mit einer Vielzahl von Apps durch Landschaften fahren, die realer erscheinen, als sie dies in Wirklichkeit jemals sein könnten. Doch an das kräftige Schnurren einer Märklin-Lok, den betörenden Geruch von Getriebefett und das wilde Funkenschlagen eines Schleifers kommen diese virtuellen Lokführerstände ganz einfach nicht heran. Und Modelleisenbahner stehen auf Handfestes und echte Spurweite.

Und so stapeln sich Waggons und Lokomotiven zu Hunderten in den Regalen von Margrit Neissers kleinem Paradies. Neue Modelle und alte Raritäten in unterschiedlichen Massstäben, alle originalverpackt und fein säuberlich mit Preisetikett versehen. Dazwischen Ersatzteile, von der Schiene bis zur einzelnen Schraube, und immer wieder Trouvaillen, die das Herz eines jeden Modelleisenbahners höherschlagen lassen. «Unverkäuflich» steht unter einer mächtigen Dampflokomotive geschrieben. Auf den Preis des Ungetüms angesprochen, winkt Neisser energisch ab: «Sie, das sage ich Ihnen lieber nicht, sonst kommt die mir noch weg.» Und wie auf Stichwort piepst es auch schon aus Richtung der Schaufensterauslage, wo ein Dreikäsehoch sich versehentlich zu nahe an einen ICE gewagt hat. Wenngleich das kleine Ladenlokal den Charme längst vergangener Tage versprüht – moderne Alarmanlagen sorgen dafür, dass Langfinger keine Chance haben.

Erst Kuchen, dann kaufen

In einer Grossfamilie mit neun Geschwistern auf einem Bauernhof nahe bei Kaltbrunn SG aufgewachsen, verschlug es die junge Margrit zum Arbeiten ursprünglich in eine Metzgerei und später in die Hotellerie. «Ich konnte es schon immer gut mit Zahlen und Menschen», verrät die gewiefte Geschäftsfrau und erklärt gleichzeitig einem Kunden, dass das, was er da in den Händen halte, kaum woanders in der Schweiz erhältlich sei. Sie setzt die Lok auf die Teststrecke und lässt sie vor- und zurücksetzen. «250 Franken muss ich schon dafür haben – und das ist dann noch überaus günstig!»

Hast du eine Modelleisenbahn zu Hause?

Margrit Neisser kennt ihre Pappenheimer und weiss genau, wie viel sie wofür verlangen kann, damit diese nicht Nein sagen können. Sie erzählt von einem «Gstudierten», der inzwischen Herr über zweitausend Loks sei. Ob auch mal jemand den Laden verlasse, ohne etwas gekauft zu haben? Ihre Augen blinzeln. «Selten. Das sind dann meistens Leute, die ich vorher noch nie gesehen habe und auch nachher nie mehr sehe.» Treue Stammkunden, die sind ihr sowieso am liebsten. Die versorgt sie gern mit Hintergrundinfos und Anekdoten aus der Welt der Modelleisenbahnen. «Viele dieser lieben Menschen gehören für mich fast ein bisschen zur Familie. Die bringen zum Einkauf jeweils Kuchen oder Torte mit, dann gibt es zuerst einmal einen Kafi – und erst danach geht es ums Geschäft.»

Den geschäftlichen Erfolg verdank Margrit Neisser ihrer Beharrlichkeit, ihrem Fachwissen und natürlich ihrem Mann Hans. Mit ihm eröffnete sie 1963 ihr erstes Fachgeschäft für Modelleisenbahnen.

Den geschäftlichen Erfolg verdank Margrit Neisser ihrer Beharrlichkeit, ihrem Fachwissen und natürlich ihrem Mann Hans. Mit ihm eröffnete sie 1963 ihr erstes Fachgeschäft für Modelleisenbahnen.

Ihr Mann starb bei Zugunglück

Längst ist Margrit Neisser eine Institution. Und das in einer Männerdomäne. Dass dem so ist, hat sie ihrer Beharrlichkeit, ihrem Fachwissen und natürlich ihrem Mann Hans zu verdanken. Mit ihm eröffnete sie 1963 ihr erstes Fachgeschäft für Modelleisenbahnen. Zwischenzeitlich waren es gar drei. Doch das Schicksal meinte es mit der jungen Frau und den zwei Kindern nicht gut: Auf dem Rückweg von der Nürnberger Spielzeugmesse entgleiste der TEE, in dem Margrit Neissers Ehemann sass. 28 Menschen kamen beim Unglück von 1971 ums Leben, darunter auch ihr Hans. «Fortan hatte ich allein eine ­Familie zu versorgen, und da Aufgeben für mich als Bauerntochter nie eine Option gewesen ist, habe ich einfach immer ­weiter- und weitergemacht.»

Eine lange «Lebenszeit» sei ihrem Geschäft von den Konkurrenten nicht eingeräumt worden. «Heute ist von denen keiner mehr da – ich schon», schmunzelt die Grande Dame des Kleinformats, verabschiedet den letzten Kunden des Tages und schickt sich an, die Ladentür zu schliessen. Sie steckt den Trafo aus und löscht das Licht. Morgen um zehn wird sie wieder hinter dem Tresen stehen, inmitten all der Lokomotiven und Waggons, Schienen und Signale, Tunnelportale und Rasenteppiche, an der «guten Adresse für Z, N, H0, 0, LGB».  So, wie sie es seit fast 60 Jahren tut, sechs Tage die Woche. Und das auch noch mit bald 95.

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