
Dank des milderen Klimas gedeihen in der Südschweiz wieder über 6000 Olivenbäume. Im Herbst ist Erntezeit. Auf Besuch ...
Navigation
Kaum einer kennt die Sonnenstube der Schweiz so gut wie Peter Schiesser. 16 Jahre war er Chefredaktor bei der Azione, dem Tessiner Migros-Magazin. Ende Jahr geht er in Pension und erklärt den Deutschschweizern zum Abschied das Tessin.
Rund um den Locarnersee ist es für Peter Schiesser am schönsten.
Neben Sprache und Kultur eint uns vor allem der Lebensstil: Wir versuchen, einmal pro Tag das Glück zu finden. Wir wollen das Leben geniessen, zelebrieren nach der Arbeit den Aperitivo und sehen uns als Teil der mediterranen Welt.
Unser Glaube an den Staat, an den Zusammenhalt der Gesellschaft ist grösser. Auch darum halten wir uns mehr an die Gesetze. Und wir nutzen im Gegensatz zu den Italienern beim Autofahren den Rückspiegel. Meine Freunde in Italien lachen mich aus, wenn ich blinke.
Im Tessin sind das Klima und die Küche mediterran, aber das Vertrauen in Staat und Gesetze schweizerisch.
Bei uns gibt es unglaublich viel Verkehr: 73000 Italienerinnen und Italiener pendeln täglich ins Tessin, dazu kommt der Transitverkehr durch den Gotthard und die Touristen. Bei so viel Verkehr gibt es auch mehr Unfälle.
Wir sind ein Bergkanton. Lange gab uns das Auto eine Bewegungsfreiheit, die wir sonst nicht hatten. Bis vor zwei Jahren fuhr am Wochenende das letzte Postauto um 18.30 Uhr. Unter der Woche um 19.30 Uhr. Die Zugfahrt von Lugano nach Locarno dauerte eine Stunde – inklusive Umstieg im Windtunnel von Biasca. Dank des Ceneri-Tunnels dauert die Fahrt heute nur noch 30 Minuten, und mit der Gotthardröhre sind wir in zwei Stunden in Zürich. An diese neuen Möglichkeiten des ÖVs müssen wir uns erst gewöhnen.
Renntalente findet man in den Tessiner Seitentälern noch genug. Aber im Ernst: Es ist einfach viel zu teuer geworden, in die Formel 1 zu kommen.
Esst ihr täglich Cervelats? Polenta essen wir mit Braten oder mit Gorgonzola. Aber wir essen auch viel Risotto oder Pasta. Aktuell ist Sushi bei uns unheimlich beliebt. An der italienischen Grenze beim Malcantone reiht sich Sushirestaurant an Sushirestaurant.
Wir sind Teil der norditalienischen Küche – mit der kulinarischen Vielfalt im Piemont können wir aber leider nicht mithalten.
Unser Alpkäse ist spitze, genauso die Formaggini. Die müssen jedoch sehr lang reifen. Kurz bevor die Mädli herausschauen, ist der Käse perfekt. Aber auch die Salametti aus Wildschwein, Esel oder Geiss sollten alle mal probieren. Oder Marronikonfitüre, die hat gerade Saison.
Beides, aber wir meinen damit immer Espresso. In der Deutschschweiz bestelle ich meistens Schwarztee, weil euer Espresso oft so wässrig ist wie der Caffè Lungo – und teurer als bei uns.
Ganz klar nach Italien. Ich gehe oft nach Mailand: ins Theater, in Kunstausstellungen oder zum Flanieren. Wenn ich vor der Wahl stehe, im Jura wandern oder an der ligurischen Küste bei Genua baden zu gehen, entscheide ich mich oft fürs Meer. Ich liebe Italien, könnte aber nie dort leben, es ist viel zu kompliziert.
Peter Schiesser (61) ist das Kind einer Tessinerin und eines Deutschschweizers. Er war Radio- und TV-Journalist, schrieb für Tageszeitungen und danach 16 Jahre lang als Chefredaktor für Azione, dem Tessiner Migros-Magazin. Ende Jahr geht er in Pension.
Beides. Wie alle Randregionen mit einem Minderwertigkeitskomplex sehen wir uns manchmal über ihnen. So witzelte der frühere Chef der Tessiner Lega darüber, dass Italien pleite ist. Wir beneiden die Italiener aber auch: um ihre Kreativität, Kultur, Geschichte – und, dass sie besser Italienisch sprechen als wir. Sie sind schlicht eloquenter.
Die Demografie. Junge Tessinerinnen und Tessiner verlassen den Kanton für Studium oder Job und alte Deutschschweizerinnen- und Schweizer ziehen hier her, um ihren Lebensabend zu verbringen. Wenn wir nicht zum Altersheim der Schweiz werden wollen, brauchen wir Zuwanderung – aber nicht zu viel.
Es hat unser Selbstwertgefühl gestärkt und Energien ausgelöst. Ich war anfangs kein Fan von der Idee, weil ich der Meinung war: Wir müssen zwischendurch raus aus dem Tessin, um offener zu werden. Heute sehe ich aber, welche Kräfte die Forschung an der Uni freigesetzt hat. Dank ihr sind wir mit der restlichen Schweiz und der Welt vernetzt.
Da sind wir selbst Schuld. In den 1960ern war es für viele ärmere Familien verlockend, ihr Land zu verkaufen. Ich wohne selbst in einem ehemaligen Ferienhaus einer Bielerin. Wenn ich mein Haus irgendwann einem Zürcher als Zweitwohnung verkaufe, bekomme ich zwar Geld, aber die Gemeinde verliert einen Steuerzahler.
Mit der Romandie. Sie sprechen ebenfalls eine lateinische Sprache, weshalb wir sie besser verstehen. Auch kulturell scheinen wir uns näher zu sein: Uns Lateinern ist Ästhetik wichtiger als den Deutschschweizern.
Hochdeutsch klingt in unseren Ohren etwas militärisch. Schweizerdeutsch klingt wärmer, runder, auch wenn es mit all den Dialekten schwer verständlich ist.
Dass das Personal im Tessin Deutsch spricht und den Touristen entgegenkommt, ist gut. Es nervt mich aber, wenn Deutschschweizer im Restaurant den Kellner wie selbstverständlich in Mundart ansprechen. Das war vor 30 Jahren noch schlimmer, heute sind die Touristen höflicher und versuchen immerhin, ein paar Worte Italienisch zu sprechen. Für den nationalen Zusammenhalt wäre es besser, wenn in der Schule alle Italienisch lernen würden. In einer Osteria oder einem Grotto, was viele Tessinerinnen und Tessiner als ihr erweitertes Wohnzimmer betrachten, schätzen wir es, wenn Deutschschweizer sich etwas zurücknehmen und nicht den ganzen Raum mit Schweizerdeutsch füllen.
In den Restaurants in Locarno spricht das Servicepersonal zwar Deutsch, schätzt es aber, wenn Touristen versuchen, Italienisch zu sprechen.
Hart. Klar hatten wir weniger Stau, die Luft war klarer und wir hatten die Natur für uns allein – aber unsere Städte waren unheimlich leer. Die Zoom-Apéros waren traurig. Wir durften auch nicht nach Italien. Von meinem Haus in Malcantone sehe ich bis über die Grenze, aber während Corona war es, als wäre dieser Teil unserer Welt abgeschnitten.
Als ich als Velokurier in Zürich arbeitete, nannte man mich immer Tessinerli. Noch heute fühlen wir uns nicht ganz verstanden und respektiert von der restlichen Schweiz. Auf der Managementebene spielt die Herkunft meistens keine Rolle mehr, aber darunter müssen wir Tessiner uns den Respekt meistens erst verdienen.
Ich habe mich sehr über seine Wahl gefreut. Dass wir in der Regierung vertreten sind, ist wichtig für den nationalen Zusammenhalt und zeigt uns: Wir sind Teil der Schweiz. Und die anderen Kantone merken: Das Tessin ist uns ebenbürtig. Bei uns wird Cassis weniger kritisiert, zumindest in der Öffentlichkeit. Wenn wir schon mal einen Bundesrat haben, wollen wir ihm nicht gleich in den Rücken fallen.
Stefano Franscini war Mitglied des ersten Bundesrats und Vater der ersten Volkszählung. Carla Del Ponte sollte man ebenfalls kennen: Sie war Bundesanwältin, Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und Mitglied des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte. Und mit Aurelio Galfetti und Mario Botta haben wir zwei Stararchitekten hervorgebracht. Auch wenn Botta mit dem Casinò di Campione d'Italia am Luganersee ein Monster geschaffen hat.
In der Industriezone im Flachland.
Um den Locarnersee. Die Weitsicht und die Offenheit sind wunderschön. Am besten gefällt mir Locarno aber während des Filmfestivals.
Locarno gefällt Peter Schiesser immer, aber nie so sehr wie während dem Filmfestival auf der Piazza Grande.
Ihr fehlt ein See. Aber mit Bellinzona könnte es aufwärtsgehen. Einige Gemeinden haben fusioniert und einen neuen Zonenplan erstellt. Dort könnte einiges entstehen. Dank den neuen Zugverbindungen ist Zürich in unter zwei Stunden erreichbar, das könnte der Wirtschaft zugute kommen.
Obwohl ich TV-Journalist war, schaue ich kaum fern. Es stimmt, bei vielen läuft der TV fast ununterbrochen, das haben wir von den Italienern. Mein Schwager hat in der Küche, im Schlafzimmer und im Wohnzimmer je ein Gerät. Als ich ihn fragte, ob wir die nicht mal ausmachen könnten, rief er entsetzt: «Du bist so ein Schweizer!» Dann wundern sie sich, dass Berlusconi, der TV-Mogul, es immer wieder an die Macht schafft. Im Tessin sind Klatschund Sportsendungen sehr beliebt
Dass es auch Graubereiche gibt, nicht alles schwarz-weiss ist. Wir können von euch lernen, weniger mit dem Herzen und mehr mit dem Kopf zu entscheiden.