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Auf dem Sterbebett

Was zählt am Lebensende?

Der langjährige Palliativmediziner Steffen Eychmüller hat schon viele Menschen beim Sterben begleitet. Er sagt, was die Menschen vor dem Tod beschäftigt und was sie bereuen.

Text Ralf Kaminski
Fotos Christoph Fischer
Datum
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Viele Menschen ziehen auf dem Sterbebett Bilanz über ihr Leben. Kaum jemand bereue da, nicht noch mehr Fernsehen oder Youtube geschaut zu haben, sagt Steffen Eychmüller. 

Sie haben schon Hunderte Menschen in den Tod begleitet. Was beschäftigt sie am Lebensende?

Oft blicken Sterbende zurück auf ihr Leben: Was war schön, was war belastend? Einige sprechen darüber offen mit ihren Angehörigen, andere halten es sogar schriftlich fest. Es gibt aber auch Menschen, die nicht zurückblicken, zumindest nicht erkennbar.

Gibt es Muster, was Sterbende bereuen und worüber sie froh sind?

Meist geht es um die Intensität des Lebens, um Beziehungen, Freundschaften und Familie. Wer in diesen Bereichen eine positive Bilanz ziehen kann, ist tendenziell zufrieden. Bei denen, die früh sterben müssen, ist grosse Trauer da, vieles nun nicht mehr zu erleben, etwa die eigenen Kinder aufwachsen zu sehen. Bereut wird häufig, wenn man seine Leidenschaften und Interessen zu wenig ausgelebt hat, sich zu wenig gegönnt hat. Einige haben dies rausgeschoben – und nun plötzlich keine Zeit mehr dafür.

Kommt das häufig vor?

Wir erleben es immer wieder, dass Menschen diese Dinge nach der Pensionierung geniessen wollten – und dann kommt genau in dieser Zeit die Diagnose einer schwerwiegenden Krankheit, die die Möglichkeiten stark einschränkt.

Stirbt man leichter, wenn man nichts oder wenig bereut?

Das ist schwer zu sagen. Die Kehrseite eines intensiven, lustvollen Lebens ist, dass man überhaupt keine Lust hat, damit aufzuhören. Und wer viel und stark geliebt hat, den schmerzt der Abschied stärker.

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Experte für Palliativmedizin

Steffen Eychmüller (60) ist Chefarzt am Universitären Zentrum für Palliative Care am Inselspital Bern und Co-Autor des Buchs «Das Lebensende und ich». Er arbeitet seit 1999 in diesem Feld und engagiert sich zudem bei baerntreit.ch und netzwerk-lebensende-bern.ch. Eychmüller ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Bern.


Lesetipps:
Steffen Eychmüller, Sibylle Felber: «Das Lebensende und ich», Stämpfli Verlag 2022, bei exlibris.ch 
Rebekka Haefeli: «C’est la vie – Unterwegs mit zwei Pionieren der Palliative Care», Hier und Jetzt 2022, bei exlibris.ch

Filmtipp:
Sub Jayega: Die Suche nach dem Palliative-Care-Paradies
Fabian Biasios Vater starb auf einer Palliative-Care-Abteilung mit Blick auf einen überdachten Parkplatz. Drei Jahre danach macht sich der Luzerner Fotograf und Filmer auf, das «Palliative-Care-Paradies» auf Erden zu finden. Entstanden ist ein Reisetagebuch, das über drei Kontinente führt – und versucht, den idealen Ort zu finden, um unbeschwert zu sterben. 

Haben viele Angst in den letzten Stunden?

In einem sicheren, vertrauten Umfeld sind die Ängste tendenziell geringer. Am Ende jedoch muss jeder diesen Weg allein gehen, und vielen hilft in diesem Moment der Glaube – egal welcher. Weil man sich dabei auf etwas abstützen kann, das ein wenig Sicherheit verspricht. Doch auch bei ihnen bleibt die Sorge um die Angehörigen und wie diese wohl ohne sie zurechtkommen. 

Aber religiöse Menschen haben es tendenziell leichter als Atheisten?

Nicht grundsätzlich. Atheisten sind oft sehr rational lebende Menschen, die damit gut durchs Leben gekommen sind. Und die ziehen das meistens auch beim Sterben durch. Für beide gilt: davon auszugehen, dass nach dem Tod nichts Schlimmes geschieht, hilft sicherlich. Aber auch wenn alles gut vorbereitet ist, kann das Sterben am Ende statt friedlich dann doch dramatisch sein.

Zum Beispiel?

Etwa wenn der Sterbende plötzlich sehr verwirrt und gestresst wird. Dann hilft die Anwesenheit von Fachpersonen. Sie können entweder mit Medikamenten helfen oder den Angehörigen beistehen, indem sie ihre Erfahrung teilen, dass dies nicht so ungewöhnlich ist.

Woher kommt der Stress?

Im sterbenden Hirn können noch viele abgehackte Filme ablaufen, die Reaktionen auslösen. Es gibt auch oft einen Wechsel von Wach- und Dämmerzuständen, abhängig von der Hirndurchblutung. Aber was in der letzten Phase ganz genau passiert, wissen wir schlicht nicht. Darüber wurden schon ganze Bücherregale geschrieben, und man kann alles Mögliche hineininterpretieren. Letztlich ist und bleibt es ein Geheimnis.

Hilft das Empfinden, mit sich und seinem Umfeld im Reinen zu sein?

Das nehme ich so wahr, ja. Wichtig ist, allfällige Lebensbilanzen früh genug festzuhalten, bevor die Kräfte zu sehr schwinden. Eine Kollegin nannte dies mal, die Lebenssymphonie fertig zu schreiben. Und für Kinder und Enkel sind solche Zeitzeugnisse häufig wertvoll, besonders wenn sie Eltern oder Grosseltern früh verlieren. Auch Konflikte sollte man rechtzeitig bereinigen. Kurz vor dem Sterben fehlt dazu die Energie – dies beizeiten erledigt zu haben, hilft in den letzten Stunden. Generell gilt: Wer sich dem Leben mutig stellt, dem gelingt dies wohl auch eher mit dem Sterben. Vielleicht auch wenn man den Mut hat, sich schon während des Lebens mit seiner Endlichkeit auseinanderzusetzen: Was bedeutet das für mich? Was für einen Auftrag habe ich dadurch?

Auftrag?

Die Frage ist doch, womit wir die Zeit verbringen, die uns gegeben ist. Idealerweise tun wir das mit für uns sinnvollen Dingen und nicht, indem wir uns die Zeit einfach vertreiben oder sie gar totschlagen. Und ich glaube, es braucht Mut, die Tage nicht einfach abzuhaken, sondern dem Leben unseren Stempel aufzudrücken. Im Hamsterrad vor sich hin zu laufen, ist viel einfacher, als zu fragen: Hey, was mache ich hier eigentlich? Könnte ich diese Zeit nicht besser nutzen, diese Arbeit nicht anders gestalten? Aber klar, das ist eine sehr privilegierte Haltung.

Inwiefern?

Viele Leute schaffen es geradeso, ihre Existenz zu sichern – darüber hinaus ist kaum etwas anderes möglich. Der Grundgedanke ist, jene Perioden, in denen wir unsere Zeit selbst gestalten können, mit etwas zu verbringen, das wir im Nachhinein als erfüllend und bereichernd empfinden. Am Lebensende wird man kaum bereuen, nicht noch mehr Fernsehen oder Youtube geschaut zu haben.

Wie gross ist die Sorge der Sterbenden, allein zu sterben?

Das variiert. Für uns emotional am schlimmsten ist es, wenn Menschen sichtbar darunter leiden, allein zu sterben, verlassen und vergessen. Die möchten dann, dass wir Fachpersonen quasi Ersatz für ein entfremdetes Kind oder einen Partner sind, aber das können wir nicht leisten.

Kommt das häufig vor?

Es kommt vor. Oft passiert das Sterben auch unabsichtlich allein, weil der Moment des Todes sich nicht genau vorherbestimmen lässt. Manchmal geschieht es genau dann, wenn ein Angehöriger gerade kurz draussen ist, um einen Kaffee zu holen. Manche verabschieden sich jedoch schon vorher, weil sie diesen Moment nicht erleben möchten.

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Woran merken Sie, dass es nun tatsächlich zu Ende geht?

Es gibt klare Symptome: langsamer Rückgang der Körperenergie, kein Interesse mehr an Medikamenten oder Essen und Trinken. Das Hirn sendet die entsprechenden Impulse nicht mehr, weil es einfach nicht mehr wichtig ist. Man stirbt dann nicht, weil man nicht isst und trinkt, sondern man isst und trinkt nicht, weil man stirbt. Ausserdem wird die Durchblutung schlechter, zuerst in den Händen und den Füssen, schrittweise auch im Gehirn – für die Angehörigen macht sich das daran bemerkbar, dass das Denken für den Sterbenden schwieriger wird. Die wichtigste Funktion des Körpers, das Atmen, bleibt so lange wie möglich erhalten; aber irgendwann wird die Muskulatur so schwach, dass auch das schwierig wird – bei den meisten löst dies das Sterben aus. 

Ist es ein allmähliches Wegdämmern, wie wenn man einschläft?

Was ein Mensch genau erlebt, wenn er stirbt, wissen wir nicht. Aber der Rückzug des Lebens aus dem Gehirn dürfte sich sehr ähnlich anfühlen wie einschlafen. Irgendwann kommt die Bewusstlosigkeit. Es bleibt jedoch immer diese kleine Unsicherheit, wie lange dann doch noch etwas da ist, selbst über den letzten Herzschlag und den letzten Atemzug hinaus – das Geheimnis der allerletzten Momente.

Viele haben weniger Angst vor dem Tod als vor der Leidenszeit davor. Müssen denn viele leiden?

Körperliche Schmerzen lassen sich mit Medikamenten heute gut dämpfen, aber Leiden ist ja mehr als das. Dabei geht es um Selbstwert, Bewegungsfähigkeit, Dinge zu machen, die man tun möchte, seine Werte zu leben. Das Leid, dies nicht mehr tun zu können, lässt sich nicht mit Medikamenten beseitigen. 

Worin unterscheidet sich das Sterben in Ihrem Zentrum für Palliative Care von einem Sterben andernorts?

Nur etwa ein Drittel der Patienten stirbt bei uns, zwei Drittel gehen nach Hause oder in eine Pflegeumgebung. Wir kommen zum Einsatz, wenn eine Situation schwierig und stressig ist und die Angehörigen klar Unterstützung brauchen. Zu Hause ist das Auffangnetz oft zu schwach; wir bieten hier auch psychologische und seelsorgerische Unterstützung. Ziel unserer Behandlung ist es, das Leiden zu lindern, ohne dem Sterben dabei nachzuhelfen, was einen sehr sorgsamen Einsatz von Medikamenten voraussetzt.

Ist es ein Unterschied, ob da ein sterbenskranker junger oder ein hochbetagter Mensch kommt, der ein langes, erfülltes Leben hatte?

Ganz klar. Und als Unispital und Ort der letzten Hoffnung haben wir relativ viele junge Schwerkranke mit ihrem Umfeld hier. Unser Altersschnitt ist derzeit etwa 54, die jüngste Patientin ist 29. Zu Beginn dachten wir, sie stirbt in ein paar Tagen, aber sie hat sich inzwischen wieder ganz gut stabilisiert. Wir werden auch selbst immer wieder überrascht, was noch möglich ist. 

Zu Hause Sterben: Palliativpflege für Todkranke (Video: SRF Dok)

Die meisten vermeiden es, sich mit ihrem Tod auseinanderzusetzen. Gäbe es weniger Ängste um das Thema, wenn wir anders damit umgingen?

Davon bin ich überzeugt. Es würde schon helfen, wenn der Tod im Alltag präsenter wäre – so wie kürzlich in Grossbritannien, als der Leichnam von Queen Elizabeth II unter enormer öffentlicher Anteilnahme durch die Strassen gefahren wurde. Was hierzulande in der Regel nicht mehr passiert. Das Sterben findet meist verborgen statt, ist nicht Teil der Normalität in unserer Gesellschaft. Viele erleben gar kein Sterben bis zu ihrem eigenen. Ein guter Schritt wäre schon, sich die Zeit zu nehmen, Menschen, die einem nahestehen, in den letzten Tagen zu begleiten.

Was gibt es sonst noch für Möglichkeiten zur Normalisierung?

In einigen Ländern wird das Sterben im Schulunterricht thematisiert – hier geschieht das meist nur, wenn jemand in der Klasse bei einem Unfall oder einem Suizid stirbt. Wir haben den Verkehrsbetrieben in Bern mal vorgeschlagen, folgenden Text auf ihren Monitoren zu platzieren: «Heute Nacht sind weltweit 80’000 Menschen verstorben. Sie waren nicht dabei – herzlichen Glückwunsch. Machen Sie was draus!» Wir bekamen nicht mal eine Reaktion. Zumindest wäre es gut, innerhalb der Familie darüber zu sprechen: Was passiert, wenn jemand im hohen Alter oder auch unerwartet stirbt – was für eine Beerdigung ist gewünscht, welche organisatorischen Dinge stehen dann an?

Wieso vermeiden wir diese Auseinandersetzung?

Auf den Philippinen, wo ich einmal einige Monate gearbeitet habe, gilt es als selbstverständlich, dass wir Teil eines zyklischen Naturgeschehens vom Werden und Vergehen sind. Hier hingegen halten wir alles für kontrollierbar und machbar – und glauben, wir könnten dem Vergehen mithilfe der Hochleistungsmedizin etwas entgegen setzen, uns quasi Lebensjahre dazu kaufen. Der Fall ist umso tiefer, wenn sich diese Illusion auflöst, alles im Griff zu haben.

Was wäre eine bessere Einstellung?

Vielleicht eine gewisse Selbstrelativierung und Bescheidenheit, sich damit abfinden, dass man selbst nicht die Krone der Schöpfung ist und die gleichen Regeln gelten wie für alle Lebewesen, dass man also irgendwann gehen muss. Sich bewusst zu sein, dass es einem geht wie allen anderen auf dieser Welt, kann eine entspannende Wirkung haben. 

Palliative Care ist in der Schweiz ein relativ junges Feld: Was müsste noch besser werden? 

Im Parlament wird gerade eine Motion zur Finanzierung der Palliative Care diskutiert. Aus meiner Sicht bräuchte es eine Gleichstellung mit der Situation am Lebensanfang, wo keine Kosten gescheut werden, um alle Eventualitäten zu berücksichtigen – und alles klar gesetzlich geregelt ist. Es braucht eine gute Absicherung der Angehörigen, die sich um Sterbende kümmern, und eine solidarische Finanzierung von Einrichtungen, die das chronische Leiden in der letzten Phase lindern, von ambulanten Angeboten bis zu Hospizen. Es geht letztendlich um den Wert des Lebensendes, den wir als Gesellschaft bereit sind zu bezahlen. Für Medikamente und medizinische Massnahmen geben wir unendlich viel Geld aus. Am Lebensende braucht es aber vor allem Zeit für die Begleitung und Betreuung. Und die steht heute oft nicht oder zu wenig zur Verfügung, hat keinen Wert. Auch das sollte sich ändern.

Wie wirkt sich die pausenlose Beschäftigung mit dem Thema Tod auf Sie selbst aus? Stehen Sie Ihrem eigenen Ende entspannt gegenüber?

Wie viele, die in diesem Bereich aktiv sind, empfinde ich meine Arbeit als sehr erfüllend und sinnstiftend, meine Lebensbilanz deshalb als positiv. Und ich spreche über diese Themen mit meinem Umfeld und meiner Familie. Gleichzeitig muss ich sagen, dass ich es gar nicht toll fände, wenn ich in den nächsten Tagen sterben müsste. Ich lebe so gern, habe noch so viele Ideen im Kopf und möchte noch viel erleben. Aber wenn es denn so käme, hoffe ich, dass ich es dank meiner Arbeit in diesem Feld dennoch akzeptieren könnte. 

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