
Die Zahl der gläubigen Katholiken steigt zwar weltweit, doch die Kirche gerät immer wieder in die Negativschlagzeilen ...
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Das Bistum Chur geht bei der Prävention von Machtmissbrauch neue Wege. Gemeinsam mit Karin Iten, einer Expertin für Gewaltprävention, ist neu ein Verhaltenskodex entstanden – auch zum Umgang mit Sexualität. Doch es gibt Widerstände.
Im Bistum Chur gilt seit Kurzem ein Verhaltenskodex, um Machtmissbräuche und sexuelle Übergriffe präventiv zu verhindern. (Bild: picture alliance/dpa)
Am Zölibat muss gerüttelt werden! Ob er fällt, entscheiden andere. Aber der Pflichtzölibat lässt viele Menschen zerbrechen, und die Kirche nimmt dies wissentlich in Kauf. Der Zölibat drängt viele Priester zu einem toxischen Doppelleben mit viel Leid auf allen Seiten. Daraus resultiert eine Kultur der Vertuschung rund um Sexualität, die dazu beiträgt, dass auch über Sexualstraftaten in den eigenen Reihen geschwiegen wird.
Er führt nicht automatisch und allein zu sexuellem Missbrauch, quasi als Triebventil. Wer freiwillig ohne Sex leben möchte, kann dies selbstverständlich tun. Aber wer dies nicht will oder schafft, sollte nicht zu Heimlichtuerei verpflichtet werden. Eine Kirche, die scheinheilig vortäuscht, der Zölibat sei kein Problem, belügt sich selbst und setzt ihr Personal einer Zerreissprobe aus.
Nein, auch auf spirituellen Missbrauch. Es wurde etwa jahrhundertelang die Angst vor dem Teufel oder einem strafenden Gott geschürt – so standen Menschen unter ständigem Verdacht auf Sündhaftigkeit. All dies hat eine Angstkultur geschaffen. Auch die Sakralisierung männlicher Autorität und das Kleinhalten von Frauen ist eine Form von spiritueller Manipulation. Es braucht Chancengleichheit – diese patriarchale Sicht auf Gott und die Welt ist für viele Frauen entwürdigend. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit all dem rüttelt an den Grundfesten der katholischen Kirche und an männlicher Definitionsmacht.
Bild: Mali Lazell
Karin Iten (52) ist Präventionsbeauftragte im Bistum Chur und arbeitet zudem bei Infosekta in der Sektenprävention. Sie studierte ursprünglich Umweltnaturwissenschaften an der ETH und war lange Jahre in der Gewaltprävention tätig, unter anderem als Geschäftsführerin der Fachstelle Limita zur Prävention sexueller Ausbeutung. Iten ist Mutter zweier Söhne im Teenageralter und lebt am Walensee.
Zum neuen Verhaltenskodex des Bistums Chur geht es hier
Wir tauchen an Schulungen als erstes in eine Fallgeschichte ein. Ich möchte, dass sich alle zunächst in Betroffene hineinversetzen und verstehen, was sexueller und spiritueller Missbrauch mit Menschen macht. Die wichtigste Grundlage ist Empathie.
Ja. Doch danach muss es unbedingt ums Handeln gehen. Wir erkunden ehrlich, wie solche Taten in der Kirche erschwert werden können – selbst- und systemkritisch. Es geht um die Frage: Was kann ich im System Kirche tun, um Ähnliches zu verhindern? Da kann jeder und jede Verantwortung übernehmen. Natürlich kommen dabei auch die Defizite im System zum Vorschein.
Neben viel Zuspruch, ja. In fundamentalistischen Kreisen wird Prävention zum Feigenblatt. Zur ehrlichen Risikoreflexion gehört zum Beispiel die Auseinandersetzung mit den Risiken der Sexualmoral. Doch einige sehen diese als völlig unproblematisch an, weil sie als ewige Wahrheit unantastbar über allem steht. Bei diesen Menschen laufen Präventionsbemühungen ins Leere. So wird selbstkritisches Denken im Keim erstickt.
Ja, Prävention braucht Unabhängigkeit. Nur so kann ich vermeintliche Wahrheiten oder Autoritäten in der Kirche hinterfragen. Wichtig ist zudem, dass ich konsequent die Perspektive möglicher Betroffener einnehme, also loyal gegenüber den Opfern bin und nicht gegenüber der Institution.
Ich fordere damit jene Menschen, die sich mit der Kirche in der heutigen Form voll und ganz identifizieren. Aber ich kritisiere nicht die Spiritualität an sich, sondern die Kirche mit ihren Machtmissbräuchen als Herrschaftsreligion. Die enge und selbstverständliche Verflechtung von Macht und Spiritualität hat in der katholischen Kirche eine lange Tradition – und ist aus Sicht der Prävention ein Systemfehler.
Den Umgang mit Macht aus dem Inneren einer komplexen Organisation zu gestalten. Seit meinem Studium als Umweltnaturwissenschaftlerin treibt mich die Frage an, wie Menschen mit ihrer Macht umgehen und wie es gelingt, Macht zurückzubinden. Das ist nicht nur für eine nachhaltige Gesellschaft relevant, sondern auch für das System Kirche.
Offen und herzlich. Angesichts der Missbrauchskrise in der katholischen Kirche kann niemand ernsthaft gegen Prävention sein.
Da gab es deutliche Widerstände. Prävention muss die Kirche in der Tiefe und im konkreten Alltag ernsthaft durchdringen. Das haben sich manche einfacher vorgestellt – zum Beispiel mit Schulungen, die sich auf die Basis beschränken. Aber Prävention, die Nägel mit Köpfen macht, ist kein Spaziergang. Sie fordert im katholischen System einen Struktur- und Kulturwandel rund um Macht.
Wir erleben ohnehin in demokratischen Ländern überall eine starke Erschütterung der Macht – auch in spirituellen Fragen. Das rüttelt auch an der katholischen Kirche und ihrem Klerus. Die Kirche muss sich entscheiden, ob sie die Gerechtigkeit und Demokratie anerkennt oder auf einen kleinen elitären Kern schrumpfen möchte, der statusbedingte Pfründe wahrt. Entscheidet sie sich für letzteres, dürfte sie in Richtung einer Sekte abdriften.
Joseph Bonnemain mag die Menschen – ich schätze ihn sehr dafür, und auf der menschlichen Ebene finden wir uns. Mein Kollege Stefan Loppacher und ich haben den Verhaltenskodex eingehend mit ihm besprochen, da und dort an den Details mit ihm gefeilt. Wir haben ihn auch explizit auf die Brisanz und Relevanz des Abschnitts zur sexuellen Selbstbestimmung hingewiesen.
Wir haben in vielen Vernehmlassungen um die Details gerungen. Die eigentliche Knochenarbeit steht aber noch bevor: die Umsetzung. Dafür braucht es Führungspersonen und Mitarbeitende, die im Alltag couragiert dafür einstehen. Bischof Bonnemain steht hinter allen Formulierungen des Kodex, wir haben also seinen Segen. Der allein genügt aber nicht: Wir brauchen auch sein Rückgrat als Führungsperson.
Nein, vereinzelte Priester lehnen die Vorgaben dazu weiterhin ab. Dieser Widerstand war auch absehbar – er ist das Vermächtnis der langjährigen, früheren Bistumsleitung, die solche Einstellungen gefördert hat. Alle müssten sich nun der Diskussion rund um sexuelle Menschenrechte stellen, statt sich zu verweigern, mit der Faust und dem Katechismus im Sack.
Es ist entscheidend, dass der Bischof trotz solcher Widerstände klar für die Sache einsteht. Und da macht er vieles gut, könnte aber noch mutiger und klarer sein bei Verbesserungen, die einen System- und Kulturwandel erfordern. Er möchte als Oberhirte alle unter einem Dach vereinen, aber gewisse Wertemuster schliessen sich ganz einfach aus. Wer auch fundamentalistische Kreise integrieren will, darf nicht naiv sein und muss klare Selbstreflexionsfähigkeit einfordern. Es führt aber nicht nur der Bischof allein – es braucht auch das Rückgrat aller anderen, etwa der Generalvikare. Diese könnten sich durchaus mehr einbringen.
Dann geht der Ball klar an die Führungscrew, inklusive Bischof. Sie müssen entscheiden, wie es weitergehen soll. Aus meiner Sicht wäre eine Entmachtung der Fundamentalisten sehr wichtig, denn sie nehmen Verletzungen von Menschen in Kauf. Doch diese Dringlichkeit wird noch verkannt, man hat sich sozusagen an Fundamentalismus in den eigenen Reihen gewöhnt.
In den meisten Kantonen sind die Fundamentalisten eine Minderheit. Aber je nach Sorgfalt in der früheren Personalauswahl machen sich da und dort schon Fehlbesetzungen bemerkbar.
Das Risikomanagement rund um Macht muss selbstverständlich werden. Konkret muss das Personal mittels verbindlicher Schulungen auf allen Hierarchiestufen sensibler werden; mit Instrumenten wie einem Verhaltenskodex, der Macht im Alltag kritisierbar macht, lassen sich die Risiken in heiklen Situationen reduzieren. Ausserdem braucht es niederschwellige Möglichkeiten für Beschwerden und externe Fachstellen, die Verdachtsmomente abklären. Präventionsarbeit ist ein ständiges ehrliches Suchen, wie mit Macht umsichtig umgegangen werden kann.
Ja, niemand schaut gerne ehrlich auf Risiken, Irrwege oder eigenes Scheitern. Gerade die katholische Kirche, die sich sehr lange als moralische Instanz über allem sah, tut sich schwer einzugestehen, dass sie in vielem gescheitert ist – besonders in moralischen Fragen. Aber das ist nur die eine Seite der Prävention: Einstehen für Integrität, Würde und Rechte ist nicht nur sinnvoll, sondern auch gemeinschaftsbildend und erfüllend.
Ja, teils ist er andernorts sogar bereits kurz vor Druck. Der Kodex wird sich vielerorts durchsetzen als Arbeitsinstrument oder als Diskussionsgrundlage; er setzt bereits Massstäbe. Aber ein Kulturwandel lässt sich nicht mit Papier verordnen, die Kirche muss in die Team- und Führungskultur investieren.
Sie wird mit vertieftem Einblick noch grösser. Mich beschäftigt, dass das System Kirche wegen massiven und selbstverschuldeten Personalmangels in der Schweiz zu implodieren droht. Das wirkt sich schon jetzt auf die Qualität aus, weil anspruchsvolle, reflektierte und gute Mitarbeitende abspringen. Und damit steigt das Risiko für berufliches Fehlverhalten. Die Amtskirche schrumpft durch den Reformstau, Gedanken werden enger, Kompetenzen und Lernbereitschaft geringer. Ich staune angesichts dieser Entwicklungen über die Gelassenheit, teils gar Ignoranz, der Führungscrew.
Das Einstehen für die Freiheit der Menschen. Freie Menschen, die sich aktiv, gestaltend und solidarisch in die Gesellschaft einbringen, sind die Basis einer aufgeklärten, demokratischen und humanistischen Gesellschaft. Umso mehr als Menschen in Krisenzeiten dazu neigen, in unkritisches Schwarz-Weiss-Denken zu verfallen, was sektenähnliche Phänomene oder Verschwörungsnarrative begünstigt. Kritisches Denken ist für eine zukunftsfähige Welt ganz zentral.
Nein, ich bin weiterhin Agnostikerin. Ich denke, nur einschneidende persönliche Erlebnisse können den eigenen Glauben verändern. Ich würde ganz gerne an ein Leben nach dem Tod glauben, weil es tröstet. Aber für eine sinnvolle Existenz braucht es kein Jenseits, sondern die Achtung vor dem Leben im Hier und Jetzt. Dieses Leben ist Wunder genug.