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Biografien

Das filmreife Leben von Bice und Hans

Immer mehr Menschen halten ihre Biografie fest – oder die der Eltern. Das Ehepaar van Velsen verewigte sich auf Wunsch ihrer Kinder in einem Dokumentarfilm. 

Text Ralf Kaminski
Fotos Désirée Good
Datum
Karoline Wirth filmt Bice und Hans van Velsen beim Spielen.

Karoline Wirth filmt Bice und Hans van Velsen beim Spielen.

Bice und Hans van Velsen sind ganz auf das Spiel zwischen ihnen konzentriert: Super Mastermind. Er hat eine Farbkombination vorgegeben, die sie rauszutüfteln versucht – ein Logikspiel, das den Kopf frisch hält. Sie sitzen in ihrer gemütlichen Stube mit der niedrigen Decke im Dorfzentrum von Schmerikon SG, gleich bei der Kirche. Im Hintergrund flackert ein wärmendes Feuer im Kamin. 

Die Szene ist recht typisch für sie, insbesondere an Winterabenden. Doch es ist Nachmittag, und das Ehepaar ist nicht allein: Um sie herum bewegt sich die Dokumentarfilmerin Karoline Wirth mit einer kleinen Filmkamera. Sie hält die Szene von allen Seiten fest und stellt zwischendurch Fragen: «Spielt ihr oft? Wer gewinnt normalerweise? Was spielt ihr in der Familie sonst so?» Die beiden geben bereitwillig Auskunft, Bice van Velsen gerät ins Erzählen von früher und verliert ihre Konzentration beim Spiel – findet die Lösung aber am Ende doch schneller als üblich.

Nach Drehende wird aus dem Material ein etwa 20-minütiger Dokumentarfilm über das Paar entstehen, über ihr Leben heute gekoppelt mit einem Rückblick auf ihre Kindheit, ihre Hochzeit, die Familie, das Berufsleben – sie war Kindergärtnerin, er Elektroingenieur. Der Film soll eine Erinnerung sein für ihre Söhne und Enkel, wenn sie dereinst nicht mehr da sind.

Die Enkel waren am Film sogar beteiligt: Simon machte Drohnen-Aufnahmen seiner Grosseltern beim Wandern in Maloja, wo die Familie ein Ferienhaus besitzt, sowie von Bice beim Stand-up-Paddeln auf dem Zürichsee. Linus lieferte mit seinen Drums einen Teil des Filmsoundtracks.

Eintauchen in die Familiengeschichte

«Unsere Söhne Adrian und Stefan haben uns das zu Ostern geschenkt», berichtet Bice van Velsen, «und ich erzähle ja ohnehin gern und viel.» Aber auch ihr Mann war sofort an Bord: «Wenn die Kinder das möchten, machen wir das, keine Frage.»

Sie fanden es dann auch ganz spannend, die Dreharbeiten, das Vertiefen in der Vergangenheit, die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und dem Tod, der sie durchaus beschäftigt. «Ich hoffe, dass ich zuerst gehen kann», sagt Bice. «Wäre es umgekehrt, wäre ich total überfordert, wenn ich dann deinen ganzen Technikkram aufräumen müsste», ergänzt sie lachend.

Das langjährige Paar schwelgt in Erinnerungen.

Das langjährige Paar schwelgt in Erinnerungen.

Sogar Aufnahmen einiger alter Super-8-Filme fanden Eingang in die verfilmte Lebensgeschichte. «Auf vielen Dachböden lagern noch solche Filmrollen», sagt Karoline Wirth, «und das ist oft ein Fundus wunderbarer Szenen. Die Enkel findens grossartig, ihre Eltern als Kinder durch diese Aufnahmen wackeln zu sehen.»

Die 52-jährige Dokumentarfilmerin war lange Jahre bei SRF und hat ihr Handwerk ursprünglich als VJ bei Roger Schawinskis Tele24 gelernt. 2018 gab sie ihre komfortable Stelle beim Schweizer Fernsehen auf, gründete ihre eigene Firma Retrospekt und spezialisierte sich auf filmische Vermächtnisse. Die Idee hatte sie allerdings schon viel früher, als vor 13 Jahren ihr Vater starb. «Damals fand ich es schade, dass ich keine Bewegtbilder von ihm hatte, um ihn in Erinnerung zu behalten.» Solche Filme jedoch müssten entstehen, wenn die Leute noch gut genug beieinander sind.

Sich von der Masse abheben

Pro Jahr entstehen seither rund zehn Werke. «Corona hat mir eher geholfen, weil es dazu führte, dass sich mehr Menschen mit Themen wie Vergänglichkeit und Tod auseinandergesetzt haben.» Ihre direkten Kunden sind immer die mittlere Generation zwischen 50 und 60. «Sie realisieren, dass die Eltern älter werden und möchten etwas Besonderes zur Erinnerung.» Die meisten Aufträge erhält sie dank Empfehlungen. 

Angebote für Biografien

whatalife.ch
Ein digitales Fotoalbum, das sich mit Freunden und Familie teilen lässt. So lassen sich weltweit und unbegrenzt die schönsten Erinnerungsbilder sammeln, aufbewahren und teilen. Die Server des Startups stehen in der Schweiz. Wird inzwischen nicht nur zur Erinnerung an Verstorbene genutzt, sondern auch zur thematischen Rückschau auf schöne Ereignisse im Leben.
Kosten: einmalig 45 Fr.

meet-my-life.net
Hier kann man mit Unterstützung die eigene Lebensgeschichte online festhalten. Die Autobiografien sind öffentlich zugänglich oder mit einem privacy modus auch nur selbst lesbar. Es gibt zudem die Möglichkeit, sie später als Buch zu drucken. Das Projekt wird von der Universität Zürich wissenschaftlich begleitet. Dort findet seit sechs Jahren auch eine Preisverleihung für die beste Autobiografie statt, jeweils mit einem prominenten Gast; dieses Jahr kamen Doris Leuthard und Emil Steinberger.
Kosten: einmalig 39.90 Fr. (privacy modus: 99 Fr.), Gratis-Probemonat

retrospekt.ch
Dokumentarfilmerin Karoline Wirth hält Lebensgeschichten und Familienerinnerungen auf Video fest. Wirth führt intensive Vorgespräche und dreht dann mehrere Tage. Die Filme sind in der Regel 20 bis 25 Minuten lang.
Kosten: Je nach Aufwand plusminus 10’000 Fr.

Wirth hat den Eindruck, dass heute mehr das Bedürfnis haben, das eigene Leben oder das der alternden Angehörigen für die Nachwelt festzuhalten. Das sieht auch Pasqulina Perrig-Chiello so. «Es ist recht typisch, sich mit zunehmendem Alter mit den eigenen Wurzeln auseinanderzusetzen», sagt die 70-jährige emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern. Man schaue zurück: Was war gut, was waren die Eckpfeiler, was hat mein Leben ausgemacht? «Man will vielleicht auch Dinge klären, Missverständnisse aus dem Weg räumen, erzählen, welche Opfer mit Erfolgen verbunden waren.»

Hinzu komme das Bedürfnis, Spuren zu hinterlassen. «Man möchte nicht umsonst gelebt haben.» Und hier sieht Perrig-Chiello Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren verstärkt haben. «Man nimmt sich heute wichtiger als in früheren Generationen, wo man eher Teil der Gemeinschaft war. Man möchte sich abheben von der Masse, jemand Besonderes sein, sich abgrenzen.» Gleichzeitig würden diese Lebensaufarbeitungen und historischen Spurensuchen von den Nachkommen meist als wertvoll empfunden. «Sie sind nicht nur Erinnerungen für später, sondern auch ein Einblick in die eigenen Wurzeln.» 

Sozialgeschichte aus dem Volk

Lebensgeschichten entstehen seit acht Jahren auch bei der Autobiografie-Plattform meet-my-life.net. «Inzwischen sind es rund 450», sagt Erich Bohli (72), Gründer und Leiter der Plattform. «Vom Metzger bis zum CEO gibts fast alles. Die meisten sind älter als 65 und schreiben mit dem Ziel, ihren Nachkommen etwas zu hinterlassen.» Hingegen beteilige sich kaum jemand, der keine Kinder habe.

«Eine zweite Gruppe schreibt aus therapeutischen Gründen», sagt Bohli. «Das sind Menschen, die in prekären Verhältnissen leben oder sonst ein schweres Leben hatten. Von ihnen höre ich, dass es ihnen sehr gut tut, sich all das sozusagen von der Seele zu schreiben.» Das Angebot ist so aufgebaut, das auch ungeübte Schreibende es nutzen können. «Klar gibts dann manchmal Geschichten mit vielen Fehlern und sehr eigenem Stil, aber das ist dann auch sehr authentisch.»

Besonders schön findet Bohli, wenn erwachsene Kinder ihre Mutter oder ihren Vater beim Schreiben der Lebensgeschichte unterstützen. «Das führt zu spannenden Gesprächen und löst auf beiden Seiten viel aus.» Der Betriebs- und Kulturwissenschaftler sieht meet-my-life auch als «Sozialgeschichte aus dem Volk», eine Sammlung von Lebensgeschichten, die für künftige Historiker sehr spannend sein dürften.

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