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Ukraine-Flüchtlinge in der Schweiz

Auf der Suche nach Heimat

Am 24. Februar ist es ein Jahr her, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Wie geht es heute Familien und Menschen, die in die Schweiz geflüchtet sind? Fünf erzählen.

Text Ralf Kaminski, Deborah Bischof, Rahel Schmucki
Fotos Ladina Bischof, Nik Hunger
Datum
Olga Palamarchuk mit ihrem Mann und acht ihrer zehn ukrainischen Pflegekindern.

Olga Palamarchuk mit ihrem Mann und acht ihrer zehn ukrainischen Pflegekinder.

«Es geht mir darum, was für meine Kinder am besten ist»

Olga Palamarchuk (46)
Psychologin, Rehetobel AR; Heimatort: Mariupol
Seit dem 25. März 2022 in der Schweiz
Aktuelle Lage: Sie flüchtete mit ihrem Mann und ihren zehn Kindern (2 bis 16 Jahre), im Gepäck nur die Reisepässe. Heute leben sie in einem grossen Haus mit anderen Geflüchteten.

Wäre sie allein, wäre Olga wohl schon zurück in ihrer Heimat. «Aber es geht mir darum, was für meine Kinder am besten ist», sagt sie. Vor ihrer Hochzeit haben sie und ihr Mann sich versprochen, ein Kind aus dem Heim zu adoptieren. Aus einem wurden drei Adoptiv- und sieben Pflegekinder. «Als wir das Leid gesehen haben, konnten wir nicht anders.» Ihre Kinder kommen alle aus prekären Verhältnissen. Jedes hat seine eigene Geschichte. Der dreijährige David wurde mit einer Parese geboren, war linksseitig gelähmt und konnte kaum gehen. Heute rennt er im Haus herum. Roman (2), der jüngste im Bunde, hat das Downsyndrom. Kinder wie er hätten in ukrainischen Heimen keine hohe Lebenserwartung, so Olga. Maxim (9) war verstört und konnte nicht sprechen, als er zu ihnen kam. In der Schweiz wird er medizinisch behandelt, besucht eine Sonderschule und spricht erste Worte. Olga und ihr Mann sind begeistert, wie gut Schulen und Medizin hier sind. Und sind dankbar für die Hilfe, die ihre Familie bekommt.

Ob sie bleiben? «Momentan haben wir keine Wahl.» Mariupol ist besetzt, ihr Haus zerstört. Als sie im Sommer versuchten, in einen anderen Bezirk zurückzukehren, wollte die Grossfamilie keiner aufnehmen. Zu kompliziert, zu teuer. In der Schweiz leben sie mit anderen Geflüchteten in einem grossen Haus, organisiert und unterstützt vom Verein Tipiti. Bald sollen sie eine eigene Bleibe bekommen. Es gehe ihnen sehr gut, sagt Olga. Aber sie macht sich auch Sorgen: Was, wenn man keine Wohnung für sie findet oder der Status S aufgehoben wird? Sie hofft nur eines: dass ihre Familie auch in Zukunft ein Zuhause hat.

Olena Chepurenko hat trotz Erfahrungen als Unternehmerin und Finanzchefin Mühe, hier einen Job zu finden.

Olena Chepurenko hat trotz Erfahrungen als Unternehmerin und Finanzchefin Mühe, hier einen Job zu finden.

«Ich bin Ukrainerin, ich gebe nicht auf»

Olena Chepurenko (44)
Finanzfachfrau, Rorschach SG; Heimatort: Kiew
Seit dem 9. März 2022 in der Schweiz
Aktuelle Lage: Sie lebt mit ihrer Tochter (16) und ihrer Mutter bei einer Gastfamilie, arbeitet Teilzeit als Übersetzerin und sucht einen Job.

«Ich bin dankbar, dass wir hier sein dürfen. Da will ich wenigstens selbst für meine Familie sorgen. Anfangs habe ich gedacht, ich müsste gut Deutsch können, damit ich einen Job finde. Deshalb habe ich fünf Monate einen Intensiv-Deutschkurs bei der Migros-Klubschule besucht. Heute habe ich Niveau B2, verstehe und spreche fliessend Deutsch. Doch mittlerweile weiss ich, dass es nicht auf mein Sprachniveau ankommt.

In der Ukraine habe ich die Finanzabteilung eines staatlichen Unternehmens geleitet, dann eine staatliche IT-Firma geführt und zuletzt mit meinem Geschäftspartner eine eigene Baufirma ­gegründet. Doch hier ist das Einzige, was man mir anbietet, ein Job als Putzfrau oder Tellerwäscherin. Aber ich will nicht klagen. Für Schweizer Firmen ist es schwierig, Leute mit Schutzstatus S einzustellen. Sie müssen Zeit und Geld investieren, ohne zu wissen, wie lange die Person in der Schweiz bleibt. Das ist ein grosses Risiko. Ich verstehe das, ich war selbst Arbeitgeberin. Immerhin kann ich Teilzeit als Übersetzerin arbeiten. Anfang Februar habe ich zudem eine Ausbildung als Brückenbauerin begonnen. Da lerne ich, wie ich Geflüchtete mit psychischen Problemen oder ­einem Trauma unterstützen kann. Ich hoffe, dass ich damit eines Tages auch meinen Landsleuten zu Hause helfen kann, zum Beispiel mit Videoberatungen.

Das Geld ist knapp. Jedes Mal, wenn wir einkaufen, müssen wir rechnen, wie viel uns bleibt. Ich habe über 80 Bewerbungen geschrieben, bisher leider ohne Erfolg. Aber ich bin Ukrainerin, ich gebe nicht auf.»

Ukrainische Geflüchtete

76’727
Personen aus der Ukraine haben bis Ende Januar den Status S in der Schweiz beantragt, 73’924 haben ihn bis dahin erhalten. Gut ein Drittel der Geflüchteten ist männlich. Ebenfalls fast ein Drittel ist jünger als 18.

8824
Personen haben den Status S bereits wieder aufgegeben und die Schweiz verlassen. Ob sie heimgekehrt oder in ein anderes Land weitergezogen sind, ist unklar.

35
Prozent der ukrainischen Geflüchten sind laut der Schweizerischen Flüchtlingshilfe noch immer bei Gastfamilien untergebracht.

14.6
Prozent war Ende Januar die Erwerbsquote der ukrainischen Geflüchteten. Haupthürde für viele Jobs ist die Sprache.

5
Jahre müssten die Geflüchteten mit Status S in der Schweiz bleiben, bevor sie eine Aufenthaltsbewilligung B beantragen können – vorausgesetzt der Status S ist dann noch in Kraft. Wer eine Person mit Schweizer Bürgerrecht oder Niederlassungsbewilligung C heiratet, kann B bereits dann beantragen.

8
Millionen Menschen aus der Ukraine sind seit Kriegsbeginn ins Ausland geflüchtet, rund fünf Millionen innerhalb des Landes auf der Flucht. Fast 40 Prozent der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe und der Verein «Zürich hilft der Ukraine» sind weiterhin hier und in der Ukraine engagiert – sie freuen sich über Unterstützung.

Oleksandr Sheviakov arbeitet seit November bei der Migros Ostschweiz in Gossau SG.

Oleksandr Sheviakov arbeitet seit November bei der Migros Ostschweiz in Gossau SG.

«Unsere Situation hier ist inzwischen recht stabil»

Oleksandr Sheviakov (38)
Mitarbeiter Lebensmittelindustrie, Speicherschwendi AR; Heimatort: Dnipro
Seit September 2022 in der Schweiz (Frau und Kinder, 6 und 11, schon seit März 2022)
Aktuelle Lage: eigene Wohnung dank der Gastfamilie; die Eltern arbeiten und lernen Deutsch.

Sie blieben nach Kriegsbeginn in der Ukraine und halfen den Truppen. Weshalb sind Sie vergangenen Herbst doch noch Ihrer Familie in die Schweiz gefolgt?
Weil ein Freund und ich im Sommer bei einem Einsatz nahe der Front einer Bombe zum Opfer fielen. Wir waren mit einem Auto voller Material unterwegs zu den Truppen als es zur Explosion kam. Ich wurde verletzt, er starb, das war sehr hart. Ich bin wieder vollständig genesen, aber danach entschloss ich mich zu gehen. Und für mich war klar: Ich will so rasch wie möglich arbeiten.

Wie schwierig war es, einen Job zu finden?
Nicht so schwierig, vielleicht hatte ich auch Glück. Ich habe lange bei Banken gearbeitet, war aber in den Jahren vor dem Krieg in der Lebensmittelindustrie tätig, in der Herstellung von Pflanzenöl. Schon im Oktober kam ich mit der Migros ins Gespräch, die damals personelle Engpässe im Fleischbereich hatte. Am 7. November konnte ich anfangen und mache nun nach Ende der Probezeit eine richtige Ausbildung. Ich organisiere das Kühllager mit den Fleischprodukten und bediene den Trennfleischschneider. Die Arbeit gefällt mir, nun muss ich einfach mein Deutsch weiter verbessern.

Wie geht es Ihrer Familie hier?
Unsere Situation ist inzwischen recht stabil, meine Frau arbeitet ebenfalls, als Sportlehrerin an der Universität St. Gallen, die Kinder gehen zur Schule, unser Deutsch macht Fortschritte. Aber natürlich machen wir uns grosse Sorgen um Familie und Freunde in der Ukraine – meine Eltern zum Beispiel, die zu alt sind, um zu flüchten und ihr Leben nochmals komplett zu ändern. Wir telefonieren jeden Tag.

Wollen Sie nach dem Krieg so rasch wie möglich zurück oder lieber hier bleiben?
Ich liebe die Ukraine, und wir vermissen Familie und Freunde. Aber niemand weiss, was von meiner Heimat am Ende des Kriegs übrig sein wird. Gleichzeitig fühlen wir uns hier wohl und sind sehr dankbar für die Hilfe – auch für die grosse Unterstützung, die ich hier bei der Arbeit bekomme. Ich denke, wir können erst entscheiden, wie es weiter geht, wenn der Krieg endet. Ich wünschte mir sehr, dass dies noch 2023 passiert, aber es kann auch noch Jahre dauern. Wir träumen deshalb nicht von der Zukunft, sondern konzentrieren uns auf die Gegenwart.

Julia (l.) möchte so schnell wie möglich zurück, Viktoriya hat sich recht gut eingelebt.

Julia (l.) möchte so schnell wie möglich zurück, Viktoriya hat sich recht gut eingelebt.

«Wir leben in einem Schwebezustand»

Julia (15) und Viktoriya (11) Tsarinna
Schülerinnen, Weiningen ZH; Heimatort: Poltava-Region, östlich von Kiew
Seit Juli 2022 in der Schweiz (mit Mutter und jüngerer Schwester, Vater folgte im November; er ist Strassenbauarbeiter, sie Lehrerin)
Aktuelle Lage: teilen sich eine Wohnung mit einer anderen Familie, die Eltern haben noch keinen Job, alle lernen Deutsch.

Die Mädchen wirken aufgeweckt und entspannt. Nichts weist auf die schwierigen Monate hin, die sie hinter sich haben: die Sirenenalarme, die Raketen, die sie am Himmel vorüberfliegen sahen, die Ängste, die Flucht, die Wochen in Schweizer Asylzentren – Leben, die innert kürzester Zeit total umgekrempelt wurden. Viktoriya, die Jüngere, hat sich schon ganz gut eingelebt. Sie geht in Weiningen zur Schule und fühlt sich recht wohl hier. «Wenn die anderen Französischunterricht haben, mache ich mein eigenes Programm, um besser Deutsch zu lernen.» Besonders gerne macht sie Sport.

Beide haben inzwischen neue Freundinnen gefunden, Julias Gefühle sind jedoch gemischter. «Es gefällt mir hier, aber es ist alles noch so neu, und ich vermisse meine Freunde von Zuhause.» Wegen komplizierter Einschätzungsverfahren, auf welchem Klassenniveau sie ist, kann sie die Schule erst demnächst starten. Ausserdem ist sie ständig in Kontakt mit ihrem alten Umfeld in der Ukraine und verfolgte bis vor Kurzem intensiv die Nachrichten aus der Heimat. Ihre Schwester hingegen versucht, den Krieg möglichst zu verdrängen. Beide jedoch sorgen sich um die zurückgebliebenen Grosseltern, Onkel, Tanten.

Für Julia ist klar: «Ich will zurück, wenn der Krieg vorbei ist und die Lage sich gebessert hat.» Sie denkt, dass sie ihren Berufswünschen als Malerin oder Designerin in der Ukraine besser nachgehen kann. Viktoriya ist unentschlossen, könnte sich auch vorstellen zu bleiben. Generell sind Zukunftsvorstellungen derzeit schwierig. «All unsere bisherigen Pläne sind in der Ukraine geblieben», sagt Julia. «Wir leben in einem Schwebezustand.»

Trotz Stromausfall und Luftalarm bereut Kateryna Potapenko nicht, dass sie nach Kiew zurückgekehrt ist.

Trotz Stromausfall und Luftalarm bereut Kateryna Potapenko nicht, dass sie nach Kiew zurückgekehrt ist.

«Es war schlimmer, als ich nicht in der Ukraine war.

Kateryna Potapenko (28)
Synchronsprecherin und Journalistin aus Kiew
Aktuelle Lage: hat vier Monate mit Mutter und Bruder in Winterthur gewohnt, seit August ist sie zurück in Kiew. Schreibt bis heute ein Tagebuch für den «Beobachter».

Dienstag um 9 Uhr, Mittwoch ab 14 Uhr oder Donnerstag um 9.30 Uhr. Weil es bei Kateryna Potapenko in Kiew nicht immer Strom gibt, braucht es mehrere mögliche Zeitfenster für ein Online-Gespräch mit ihr. Aber es klappt gleich beim ersten Termin. Die junge Frau sitzt in einem olivgrünen Sessel vor einer hellbraunen Tapete, schwarze Kopfhörer in den Ohren. «Heute geht es mir gut. Die Sonne scheint, und ich bin zuversichtlich. Aber vor ein paar Tagen war es ganz anders. Es ist eine emotionale Achterbahn», sagt Potapenko in gutem Englisch.

Seit August ist sie mit ihrer Familie wieder zurück in Kiew und bereut diesen Entscheid keine Sekunde. «Wir flohen am siebenten Kriegstag, weil unsere Stadt eingekesselt war. Ich dachte, dass die Russen uns besetzen würden. Hätte ich damals gewusst, wie es weitergeht, wäre ich nicht geflohen», sagt sie heute. Klar sei da diese «irrationale Angst, von einer Bombe getroffen zu werden», wie sie es nennt. Aber das Risiko, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, sei immer noch höher. Fast grösser sei die Angst, dass die Welt den Krieg in ihrem Land vergesse. «Viele von uns sind nach einem Jahr müde. Müde vom Kampf an der Front, müde von der ganzen Situation.»

Jeden Tag gibt es Stromausfall und mehrere Luftalarme. Daran habe sie sich jedoch schnell gewöhnt. «Für mich war es schlimmer, als ich nicht in der Ukraine war», sagt sie. Damals hatte sie die Alarmmeldungen auf ihrem Handy und ständig Angst, dass es jemanden von ihren Freunden oder ihren Vater getroffen haben könnte. «Seit ich zurück bin, kann ich die Gefahr besser einschätzen.»

Trotz des Kriegs sei vieles wie früher. Potapenko arbeitet als Journalistin und Synchronsprecherin, lebt zusammen mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder in ihrer Wohnung im Zentrum der Stadt, trifft am Abend ihre Freunde – neu meistens an Orten mit einem Keller – und hat ihren Buchclub. Aber um 23 Uhr muss sie wieder zu Hause sein, dann beginnt die nächtliche Sperrstunde. Dass der Krieg bereits ein Jahr dauert, macht sie traurig. «Ich hoffe, dass die Welt uns nicht vergisst und dass wir das Zusammengehörigkeitsgefühl nicht verlieren.»

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