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Rassismus

«Ich lernte früh, mir alles zu erkämpfen»

Als Kind betete Tallulah Bär am Abend jeweils, dass sie am nächsten Tag mit weisser Haut aufwacht. Im Film «Je suis Noires» erzählt sie von den Herausforderungen, als Schwarze in der Schweiz zu leben.  

Text Ralf Kaminski
Fotos Anne Gabriel-Jürgens
Datum
Tallulah Bär möchte dazu beitragen, dass andere Menschen mit dunkler Haut es künftig leichter haben als sie es hatte.

Tallulah Bär möchte dazu beitragen, dass andere Menschen mit dunkler Haut es künftig leichter haben als sie es hatte.

Tallulah Bär musste die Schweiz verlassen, um sich mit ihr zu versöhnen. Mit 19 übersiedelte sie 2012 als Schulversagerin nach Grossbritannien, 2019 kehrte sie mit einem Masterabschluss an der renommierten London School of Economics zurück, für einen attraktiven Job bei der Credit Suisse. «In dieser Zeit hat sich viel verändert – bei mir und in der Schweiz. Heute fühle ich mich wohl hier, möchte bleiben. Und auch dazu beitragen, dass sich die Situation für Afroschweizerinnen und -schweizer weiter verbessert.»

Sie wurde vor 30 Jahren in Zürich geboren, als Tochter einer Bankerin aus Ghana, die bereits in den frühen 1980er-Jahren in die Schweiz kam. Über ihren Vater, einen Ägypter, möchte sie lieber nicht sprechen. Im Kindergarten realisierte sie zum ersten Mal, dass sie anders war als die anderen.

«Ein Mädchen aus der Klasse lud alle zu ihrem Geburtstag ein – nur mich nicht. Mein weisshäutiger Götti hat dann interveniert und sich beklagt, sowas gehe einfach nicht. Ich bekam dann ebenfalls eine Einladung, aber für einen anderen Termin, nur mit dem Geburtstagskind. Generell war es mein Götti, der sich während der Schulzeit für mich gewehrt hat. Meine alleinerziehende Mutter hat 150 Prozent gearbeitet, hatte wenig Zeit und war auf Englisch gewandter als auf Deutsch. Sie konnte kaum eingreifen.»

Hänseleien und Tränen

«Mohrenkopf» oder «Kuhfladen» wurde sie genannt, oder sie hörte Sprüche wie «der Neger kommt». «Einmal wurde ich sogar von Buben an einer Haltestalle aus dem Bus geworfen. Der Fahrer liess es einfach geschehen. Und ich stand da, allein und weinend. Manchmal verprügelten sie mich auch, und so lernte ich irgendwann, mich zu verteidigen und für mich einzustehen.» Sie vermutet, dass die Lage anders gewesen wäre, wenn ihre Mutter mit ihr nicht aufs Land gezogen wäre. «In der Stadt waren die Schulklassen schon damals bunter, aber auf dem Land war ich eine der ganz wenigen mit dunkler Haut.» 

An ihre allererste Lehrerin an der Primarschule in Samstagern ZH erinnert sich Tallulah Bär dankbar zurück. «Frau Häberling hat mir geholfen und mich unterstützt. Einige, die danach kamen, haben wenig unternommen, sich teils sogar selbst rassistisch verhalten. Es gab auch positiv Gesinnte – aber die waren in der Unterzahl.»

Sie sei eine aufgeschlossene, lebhafte Schülerin gewesen, erzählt sie, die immer versuchte habe, ihre Mitschüler zu unterstützen. «Aber ich hatte Schwierigkeiten, mich in der Schule zurechtzufinden, da ich mich von den Lehrpersonen oft unverstanden fühlte – mit einigen Ausnahmen. Ich finde, ich wurde für ähnliche Verstösse von einigen unverhältnismässig härter bestraft als meine weissen Mitschülerinnen. Durch all das lernte ich schon früh, meine Ellenbogen auszufahren und zu kämpfen. Äusserlich wirkte ich sehr selbstbewusst, innerlich sah es anders aus. Ich weinte oft, fühlte mich verletzt – und frass das alles in mich rein. Als Teenager war ich ziemlich übergewichtig. Und ich betete jeden Abend dafür, dass ich am nächsten Morgen weiss aufwache. Dass ich so sein darf wie die anderen.»

Tallulah Bär sieht Dialog und Auseinandersetzung als Schlüssel für Verbesserungen.

Tallulah Bär sieht Dialog und Auseinandersetzung als Schlüssel für Verbesserungen.

Trotz allem, sagt sie, habe sie rückblickend eigentlich eine sehr schöne Kindheit gehabt. «Meine Mutter rackerte sich ab für mich. Alles, was sie tat, machte sie, um mir ein besseres Leben und eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Es fehlte mir an nichts, und ich hatte durchaus auch gute Freunde.» Sie schaffte es schliesslich sogar an ein Klostergymnasium im Kanton Schwyz. «Aber da war es besonders schlimm, und ich reagierte mit Schuleschwänzen, fehlte oft – und flog schliesslich im Jahr vor der Matura von der Schule.»

Ihre Mutter habe das völlig überraschend getroffen. «Die Option war nun, dass ich entweder eine Lehre mache oder nochmals einen Versuch mit der Matura im Ausland.» Ein Freund, der vom gleichen Gymnasium geflogen war, erzählte ihr von seiner neuen Schule in Grossbritannien und wie anders es dort war. Ihre Mutter erklärte sich schliesslich bereit, dies zu finanzieren, vorausgesetzt es gebe keinerlei Klagen oder Absenzen. «Es war quasi meine letzte Chance.»

Selbstverständliche Diversität

In Canterbury blühte Tallulah Bär dann richtiggehend auf. «Es war eine ganz andere Welt – die Schule war ethnisch divers, und diese Verschiedenheit war völlig selbstverständlich. Rassismus war schlicht kein Thema.» Die junge Frau arbeitete und engagierte sich, schaffte nicht nur spielend die internationale Matura, sondern erfüllte später sogar die strengen Aufnahmekriterien der London School of Economics für ein Masterstudium.

«Aber wenn ich an der Schule in Canterbury erzählte, ich sei aus der Schweiz, staunten manche, weil ihnen bis dahin nicht bewusst war, dass es dort überhaupt Dunkelhäutige gibt. Einige afrikanische Mitschüler zogen mich sogar spielerisch auf, ich sei doch keine Afrikanerin und solle besser den europäischen Themenabend mitgestalten. Es war eine Phase, in der ich mich nirgends so richtig dazugehörig fühlte.

Nach ihrem Master realisierte sie, dass sie in der Schweiz einen ausgewogeneren Lebensstandard haben könnte als in Grossbritannien. «So kam ich kurz vor der Pandemie zurück. Eigentlich hätte es nur für eine kurze Zeit sein sollen, dann wollte ich weiter Richtung Asien, wo ich einen Teil des Studiums verbracht hatte.» Doch nun sass sie wegen Corona erst mal fest. «Ausserdem realisierte ich, wie viel besser die Schweiz mit der Pandemie umging als andere Länder, wie gut es uns hier trotzdem noch immer ging.» Aber auch dass sich im Umgang mit dunkelhäutigen Menschen einiges geändert hatte, insbesondere in den Städten.

«Der Mord an George Floyd in den USA hat 2020 auch hier vieles in Bewegung gebracht. Plötzlich wurde das Thema von den Medien aufgegriffen, breit diskutiert. Unternehmen setzten sich vermehrt für Diversität und Inklusion ein. Die Auseinandersetzung, die in anderen europäischen Staaten wegen ihrer Kolonialzeit längst begonnen hatte, hat nun auch die Schweiz erreicht. Dennoch fühle ich noch immer fast täglich den Druck, wegen meiner Hautfarbe besonders gut zu sein, besonders viel zu leisten, mich beweisen zu müssen.»

Der Trailer von «Je suis Noires». (Video: First Hand Films)

Durch Zufall begegnete sie eines Abends in einem Zürcher Restaurant Rachel M’Bon, der Westschweizer Regisseurin des Films «Je suis Noires». «Wir warfen uns im Lokal immer wieder Blicke zu, schliesslich kamen wir ins Gespräch. Und nach einigen Treffen erklärte Rachel, dass sie mich in ihrem Film haben will. Ich zögerte zuerst, meine Mutter riet mir sogar rundweg ab. Sie spricht gar nicht über das, was sie alles so erlebt hat in der Schweiz – ihre Strategie war immer: Kopf runter, beten, hart arbeiten und das Positive sehen. Es bringe nichts zu klagen.» 

Doch Tallulah Bär sieht den Dialog und die Auseinandersetzung als Schlüssel für Verbesserungen. Sie entschied sich, nicht nur im Film aufzutreten, in dem sechs dunkelhäutige Schweizerinnen von ihrem oft schwierigen Aufwachsen und Leben hier berichten; sie hat 2021 auch den Schweizer Ableger des Vereins Afro Deutsches Akademiker Netzwerk (ADAN) aufgebaut und möchte nun ihre eigene Schweiz-basierte Organisation entwickeln mit Fokus auf Diversität und Frauen, die ihre Umwelt positiv prägen. Und mit dem Ziel, dass es auch hierzulande selbstverständlich wird, eine andere als eine weisse Hautfarbe zu haben. «Inzwischen blicke ich zuversichtlich in die Zukunft. Wir sind auf guten Wegen zu einer vielfältigen Schweiz. Es geht zwar langsam voran, aber die Richtung stimmt.» 

Filmtipp: «Je suis Noires» startet am 9. März in den Kinos

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