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Kapitel 4

In der Zuckerfabrik

Ohne Zucker keine Schokolade. Die Migros bezieht ihn aus der Fabrik in Aarberg BE. Hier werden in der Hochsaison 800 000 Tonnen Schweizer Zuckerrüben verarbeitet.

Text Thomas Meyer
Fotos Flurina Rothenberger
Datum
10000 Tonnen Zuckerrüben werden in der Hauptsaison in Aarberg angeliefert – pro Tag. Das braucht ganz schön Platz.

10000 Tonnen Zuckerrüben werden in der Hauptsaison in Aarberg angeliefert – pro Tag. Das braucht ganz schön Platz.

Dass Zucker Dinge lecker macht, ist den Menschen schon lange bekannt. Bereits vor 6000 Jahren gewannen sie den Saft aus der Zuckerrohrpflanze und liessen ihn in der Sonne trocknen. Das klumpig helle Ergebnis ähnelte Kies, und so erhielt das Sanskrit-Wort dafür, «scharkara», eine neue Bedeutung. Um das Jahr 600 entdeckten findige Perser, dass man Zuckerrohrsaft mit Kalk reinigen kann, woraufhin er kristallisiert. Was man heute im 1-Kilo-Beutel in der Migros kauft, entsteht im Prinzip genauso – aber nicht aus Zuckerrohr, sondern aus Zuckerrüben. Schuld daran ist Napoleon. Der verhängte 1806 eine Wirtschaftsblockade gegen England, was dazu führte, dass keine Kolonialwaren mehr nach Europa gelangten – und eine Alternative für Zuckerrohr gefunden werden musste. Schon bald war aus der Not eine Industrie entstanden. Eine ihrer Blüten steht in Aarberg im Kanton Bern.

Mit den Raffinerien des 19. Jahrhunderts hat die Zuckerfabrik Aarberg wohl das grundsätzliche Verfahren gemein, aber keinesfalls die Dimensionen. Man kann die Anlage unmöglich verfehlen; die gigantischen Silos und Kamine, aus denen mindestens so hohe Dampfwolken quellen, sind von weit her zu sehen. Sie ist auch ziemlich gut zu hören, es grollt und grummelt aus allen Ecken. Von Mitte September bis Dezember läuft die Zuckerfabrik auf Hochbetrieb, 24 Stunden an 7 Wochentagen. Eine Kampagne nennt man das, wie Martin Wanner (60) erklärt, der hier für den Anlagenbau zuständig ist. «800 000 Tonnen Zuckerrüben werden während einer Kampagne verarbeitet, 10 000 Tonnen pro Tag. Daraus entstehen am Ende 1100 Tonnen Kristallzucker», rechnet er auf den ersten Schritten durch das Gelände vor.

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Die Kampagne beginnt damit, dass die geernteten Zuckerrüben von den Feldern der Umgebung aufgeladen und mit Traktoren, Lastwagen oder der Bahn zur Zuckerfabrik gebracht werden. Ständig rollen neue Fahrzeuge heran und reihen sich in zwei Warteschlangen, an deren Spitze die Rüben von oben mit einem dicken Wasserstrahl herausgespritzt werden, mit einem beweglichen Rohr, das ein Mann in einer Kabine steuert. Er sitzt hoch über der Abladestation und spritzt mal links und mal rechts. Rauschend rumpeln die Rüben von den Ladeflächen herunter in einen schmalen Kanal, wo sie zügig zum sogenannten Rübenwaschhaus schwimmen. Dort werden sie von Erde, Sand, Steinen und Kraut befreit – zehn Tonnen in der Minute.

Martin Wanner kennt die Zuckerfabrik wie seine Westentasche.

Martin Wanner kennt die Zuckerfabrik wie seine Westentasche.

Je nachdem, wo man sich auf dem riesigen Fabrikgelände aufhält, riecht es ganz anders. Mal nach Erde oder Heu, dann nach Kuhfladen, frischem Sauser oder gebackenen Süsskartoffeln. Das hängt davon ab, was gerade mit den Rüben angestellt wird: «Nach dem Waschen werden sie in längliche Schnitzel zerteilt, daraus wird dann der Zucker extrahiert», erklärt Martin Wanner. «So entstehen zwei Abfallprodukte, die gar keine sind: Die Schnitzel werden ausgepresst und zu Tierfutter weiterverarbeitet, aus dem Presswasser wird Restzucker gewonnen.»

Zuckerrechnung

1 Zuckerrübe ergibt rund 120 Gramm Kristallzucker. Das reicht ungefähr für zweieinhalb Tafeln Milchschokolade (à 100 Gramm).

Auch im nächsten Schritt kommt ein Nebenprodukt zum Einsatz, das sonst überall unerwünscht ist: CO2. Es wird vom fabrikeigenen Kalkofen ausgestossen. Mit gebranntem Kalk – und dem Kohlendioxid – wird nun der Rohsaft gereinigt. «Wo immer möglich, nutzen wir Abwärme, Abgase und vermeintlichen Abfall», sagt Wanner. So auch bei der Verdickung des Rohsaftes in den 20 Meter hohen Druckbehältern: Mit dem Wasser, das dabei anfällt, werden weitere Rüben von den Ladeflächen gespritzt.

Aus den Zentrifugen rieselt der kristallisierte Zucker.

Aus den Zentrifugen rieselt der kristallisierte Zucker.

Nun könnte man es machen wie die alten Perser und den Dicksaft von allein kristallisieren lassen. Das würde aber viel zu lange dauern, weswegen dieser Prozessschritt im Vakuum beschleunigt wird: Nach wenigen Minuten rieselt der Zucker in der uns bekannten Form aus riesigen Zentrifugen und landet in 1-Kilo-Beuteln für den Hausgebrauch, in 25-Kilo-Säcken für Bäckereien oder in 1-Tonnen-Big-Bags für die lebensmittelverarbeitende Industrie. Das sind aber nur 15 Prozent der Produktion. Der Rest wandert in Silos, unter denen später Silowagen andocken und auf der Strasse oder Schiene davonfahren – beispielsweise zur Schokoladefabrik der Migros nach Buchs AG.

Auch der Schweizer Zucker, wie man ihn aus der Migros kennt, stammt aus Aarberg.

Auch der Schweizer Kristallzucker, wie man ihn aus der Migros kennt, stammt aus Aarberg.

Der ganze Weg der Schokolade, von der Plantage bis ins Regal. Video: Jana Figliuolo, Daniel Grieser, Hassan El Assal

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