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Kapitel 10

Wenn die Kinder in den Ferien in die Schule gehen

Die Reise der Schokolade endet nicht im Regal: Mit jeder verkauften Tafel fliesst Geld zurück an die Kakaobauern in der Elfenbeinküste. Zu Besuch in einer Primarschule, die mit Migros-Unterstützung gebaut wurde.

Text Kian Ramezani
Fotos Flurina Rothenberger
Datum
Lehrer Jules Ouattara (24) unterrichtet an der Primarschule Broukro.

Lehrer Jules Ouattara (24) unterrichtet an der Primarschule Broukro.

Der Feiertag ist vorbei und einem Augenschein in der Primarschule Broukro steht eigentlich nichts mehr im Weg. Ausser dass in der Elfenbeinküste auch die Tage nach Allerheiligen schulfrei sind. «Kein Problem», beschwichtigt Félix Koffi (55), Leiter der Kooperative Necaayo. «Wir fahren trotzdem hin und Sie können mit dem Rektor und ein paar Schülern sprechen.» Etwas seltsam, die haben doch alle frei. Oder?

Die Schule, die 2018 mit Unterstützung der Migros erbaut wurde, liegt inmitten der Kakaoplantagen des Distrikts Bas-Sassandra. Wir starten im Ort Guiré, wo die Kooperative Necaayo ihren Sitz hat, und erreichen nach 40 Minuten Fahrt auf holprigen Feldwegen einen Wegweiser: «Erbaut mithilfe der Partnerschaft zwischen Necaayo und Chocolat Frey». Wir sind da – und die Überraschung ist gross: Nicht nur der Rektor, sondern auch zwei Lehrer und dutzende Schülerinnen und Schüler nehmen uns in Empfang. Ob die Kinder nun an einem Ferientag in die Schule beordert wurden, fragen wir mit schlechtem Gewissen. «Sie kommen gerne», versichert Rektor Ndri Koukou (29). Wenn Besuch aus der Schweiz da ist, sei das viel interessanter als ein Tag zuhause in ihren Dörfern.

Das Gebäude wurde 2018 mit Prämien der Migros gebaut.

Das Gebäude wurde 2018 mit Prämien der Migros gebaut.

Im Schulzimmer Nummer zwei beginnt der Unterricht und alle scheinen gespannt auf diese improvisierte Lektion. Vielleicht auch Lehrer Jules Ouattara (24) selbst? Durch die offenen Fenster sieht man Kakaobohnen in der Sonne trocknen und ein Lüftchen trägt ihren süssen Geruch ins Klassenzimmer. Vielleicht lässt er sich davon inspirieren.  

Lehrer: «Wie heisst unser Land?»
Klasse: «Elfenbeinküste.»
Lehrer: «Und woher kommen die Besucher?»
Klasse: «Frankreich.»
Lehrer: «Nein. Weitere Ideen?»
Klasse: «Amerika.»
Lehrer: «Auch nicht. Sie kommen aus der Schweiz.»

Die Szene zeigt eindrücklich, welche Präsenz Frankreich als ehemalige Kolonialmacht in der Elfenbeinküste noch immer hat, über 60 Jahre nach der Unabhängigkeit. Auch die Unterrichtssprache ist ausnahmslos und im ganzen Land Französisch.

Lehrer: «Und wie sind sie hergekommen?»
Klasse schweigt.
Lehrer: «Im Flugzeug. Warum wohl?»
Klasse: «Wegen dem Meer.»
Lehrer: «Das ist nicht der Hauptgrund.»
Klasse: «Es ist weit.»
Lehrer: «Bravo! Die Entfernung zwischen der Elfenbeinküste und der Schweiz ist sehr gross. Darum nimmt man das Flugzeug.»

Richtige Antworten werden mit einmaligem, lautem Klatschen der ganzen Klasse quittiert. Lehrer Ouattara steuert die Lektion nun geschickt auf den Elefanten im Raum.

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Lehrer: «Was verkaufen eure Eltern?»
Klasse: «Kakao».
Lehrer: «Genau, Kakao. Und was machen die Besucher aus der Schweiz daraus?»
Klasse: «Kaffee.»
Lehrer: «Kaffee? Wirklich?»
Klasse: «Schokolade.»
Lehrer: «Sehr gut! Schokolade.»

Die Klasse klatscht. «Und was denkt ihr, warum kommen wir aus der Schweiz, um euren Kakao zu kaufen?», fragt nun Martin Lobsiger (54), Leiter Nachhaltigkeit bei der Delica.

Klasse schweigt.
Martin Lobsiger: «Weil wir keinen haben. Kakao wächst bei uns nicht, dafür ist es viel zu kalt.»

Und damit ist die inoffizielle Schulstunde fast vorbei. Bevor sie auf den Pausenplatz entlassen werden, können die Kinder ein Stück der neuen Schokolade probieren, die aus dem Kakao ihrer Dörfer hergestellt wird. Es scheint ihnen zu schmecken.

Augenschein in der Primarschule Broukro. Video: Hassan El Assal

Dass hier rund 150 Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren in einem befestigten Bau in die Schule gehen können, ist keine Selbstverständlichkeit. Oft sind die Schulwege zu lang und zu mühselig oder die Eltern können es sich nicht leisten, alle ihre Kinder zur Schule zu schicken. Kinderarbeit im Kakaoanbau ist nach wie vor ein grosses Problem in ganz Westafrika. Die Migros bemüht sich im Rahmen ihrer langjährigen Partnerschaft mit der Kooperative Necaayo um Lösungen (siehe rechts). «Kinder gehören in die Schule», betont Rektor Ndri Koukou immer wieder. Sieht er eines auf den Plantagen, sucht er das Gespräch mit den Eltern. Oft fehlt es am Geld für das sogenannte Schul-Kit bestehend aus Uniform, Heften, Büchern und Schreibzeug. Im vergangenen Jahr konnte die Kooperative Necaayo mithilfe der Migros 1000 solche Kits kostenlos an die Kinder verteilen.

Dennoch fehle es auch hier an vielem, sagt Rektor Koukou: Neben Elektrizität und Latrinen vor allem drei weitere Klassenzimmer. Diese sind aktuell in einem Provisorium untergebracht, das aber nur ungenügend vor Regen schützt. Weiter wären Unterkünfte für die Lehrpersonen wünschenswert, die von ausserhalb kommen und aufgrund der schlechten Strassen zu viel Zeit für den Arbeitsweg verlieren. Trotz der Probleme ist Koukou überzeugt: «Die Kinder sind hier glücklicher als zuhause. Hier können sie etwas lernen, hier können sie spielen.» Man stelle sich vor, es ist schulfrei und alle gehen trotzdem hin. C’est l’Afrique.

Martin Lobsiger, Leiter Nachhaltigkeit Delica AG

Fünf Fragen an Martin Lobsiger, Leiter Nachhaltigkeit bei der Migros-Tochter Delica.

«Die Migros unterstützt den Kampf gegen die Kinderarbeit»

Wie gross ist das Problem Kinderarbeit im Kakao-Anbau in der Elfenbeinküste?
Martin Lobsiger: Nach wie vor gross, im Einzugsgebiet der Kooperative Necaayo jedoch weniger ausgeprägt. Die Bauern helfen einander bei der Ernte, was die soziale Kontrolle verstärkt, und es gibt weniger angeheuerte Fremdarbeiter, bei denen das Risiko für Kinderarbeit höher ist.

Was unternimmt die Migros, um Kinderarbeit zu bekämpfen?
Durch den Bau von Schulen und besserer Infrastuktur, sowie durch die bessere Bezahlung  und Sensibilisierung der Bauern unterstützt Delica den Kampf gegen die Kinderarbeit. Auch mit Unterstützung anderer Kakaokäufer ist das Netz an Schulen in den vergangenen Jahren viel engmaschiger geworden, so dass die Kinder leichter zur Schule gehen können. Mit der Finanzierung von Schul-Kits und durch die Ausbezahlung einer überdurchschnittlichen Prämie für zertifizierten Kakao unterstützt Delica die Eltern auch finanziell.

Wie erfolgreich sind diese Massnahmen?
Man kann ihren Erfolg nicht 1:1 messen, jedoch haben wir den Eindruck, dass die Schulgebäude gut genutzt werden, mehr Kinder zur Schule gehen und das System insgesamt etwas besser funktioniert. Für nachhaltige Fortschritte sind wir aber auch auf das Mitspielen der Behörden angewiesen, die eigentlich für die Bereitstellung der Infrastruktur zuständig ist. Leider stellen wir hier oft eklatantes Staatsversagen fest.

Wie genau funktioniert die Unterstützung der Migros?
Für die 1500 Tonnen Rainforest-Alliance-zertifizierten Kakaobohnen, die wir jährlich von der Kooperative Necaayo kaufen, entrichten wir total über 250000 Franken. Die Hälfte wird den Bauern direkt in Cash ausbezahlt, mit dem Rest werden mehrheitlich Projekte zur Förderung des Gemeinwohls der Kakaobauern und ihren Familien unterstützt.

Und die Spenderappen?
Pro verkaufte Tafel Schokolade «Côte d’Ivoire» überweisen wir zusätzlich 50 Rappen. Unter anderen wollen wir damit weiterhin die Kosten für die Schul-Kits aller Kinder der Kakaobauern übernehmen. Das ist eine grosse Entlastung und wird weitere Familien ermuntern, ihre Kinder in die Schule zu schicken.

Der ganze Weg der Schokolade, von der Plantage bis ins Regal. Video: Jana Figliuolo, Daniel Grieser, Hassan El Assal

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