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Christine Wiederkehr-Luther und Hedy Graber

Migros-Chefinnen im Interview

Wichtig ist, dass ein Wir-Gefühl entsteht

Die Migros ist die grösste private Arbeitgeberin der Schweiz. Sie sorgt aber nicht nur für Jobs, sondern engagiert sich auch gesellschaftlich und in Sachen Nachhaltigkeit. Ein Gespräch mit den Zuständigen über Verantwortung, Pionierprojekte und die neue Kampagne.

Von
Cilgia Grass, Ringier Brand Studio
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Gerade ist der Startschuss für die neue Kampagne «Migros macht meh für d’Schwiiz» gefallen. Was muss man sich unter «mehr» genau vorstellen?

Christine Wiederkehr-Luther: Viele Unternehmen, die etwas auf sich halten, tun heute etwas für die Nachhaltigkeit. Aber unsere Massnahmen sind wesentlich umfassender. Wir konzentrieren uns nicht nur auf Ökologie, sondern engagieren uns auch gesellschaftlich. Da geht es um soziale Nachhaltigkeit.

Hedy Graber: Viele Leute wissen noch nicht, dass die Migros in die Gesellschaft investiert. In die Bildung, in die Kultur. Seit 1957 ist das Migros-Kulturprozent neben den kommerziellen Zielen als eigenständiger Unternehmenszweck in den Statuten verankert. Das ist weltweit einzigartig! Schon über 5 Milliarden Franken hat die Migros in die Gesellschaft investiert. Mit unseren zahlreichen Engagements wirken wir in der Gesellschaft als Kitt. Wir sind also nicht nur Hörnliverkäufer, sondern viel mehr. (lacht)

Christine Wiederkehr-Luther: Auch unsere Eigenindustrie sorgt dafür, dass wir mehr machen können. Inwiefern?

Christine Wiederkehr-Luther: Durch sie können wir stark auf die gesamte Wertschöpfungskette der Produkte Einfluss nehmen. Stärker als bei einem Drittlieferanten. Und gemeinsam mit ihr können wir nachhaltige und innovative Produkte auf den Markt bringen.

Wurde vorher eigentlich zu wenig gemacht, dass jetzt ein Mehr nötig ist?

Hedy Graber: Mit «Migros macht meh für d’Schwiiz» möchten wir auf das aufmerksam machen, was wir bereits alles machen. Letztes Jahr gab es zum Beispiel eine Mitmach-Kampagne zum Thema Nachbarschaft. Es haben sich unglaublich viele Leute gemeldet. Zum Beispiel haben sich ein paar Nachbar*innen zusammengetan, um einen Kiesweg in der Nachbarschaft zu pflegen, weil das sonst niemand tun wollte. Sie haben das dann jeweils mit einem Apéro verbunden. Jemand anderes hat das ganze Haus zum Essen eingeladen, damit sich alle mal kennenlernen. Das sind ganz tolle und einfache Sachen, die nicht teuer sind.

Ist für dieses Jahr auch etwas geplant?

Ja. Im August lancieren wir eine Freundschaftskampagne. Dabei geht es um die Frage: Was können Menschen miteinander für die Gesellschaft machen in einer Zeit, in der sich das Individuum nicht unbedingt in einem Verein mit strengen Regeln strukturiert engagieren will? Die Menschen wollen dort abgeholt werden, wo sie sind, um sich aktiv in der Gesellschaft zu engagieren. Das Zusammenleben ist uns bei der Migros sehr wichtig.

Was tut sich im Bereich Nachhaltigkeit?

Christine Wiederkehr-Luther: Wir arbeiten mit Hochdruck an der Kreislaufschliessung, unter anderem mit unserem Plastik-Sammelsack. Dort engagieren wir uns dafür, dass man praktisch alle Plastikverpackungen zurückgeben und recyceln kann. Gemeinsam tüfteln wir daran, dass zukünftig möglichst viel davon wieder in den Verpackungen unserer Eigenindustrie landet. Wir haben ausserdem in 56 Läden Unverpackt-Stationen. Und wir setzen uns sehr stark für die nachhaltige Mobilität ein. Wir sind der Supermarkt in der Schweiz mit den meisten E-Ladestationen für die Kundschaft.

Ein Mann entsorgt einen Plastik-Sammelsack im Migros-Container.

Wie sieht es mit dem Klimaschutz aus?

Christine Wiederkehr-Luther: Wir sind eine grosse Firmengruppe. Wir sind deshalb besonders stolz, dass wir es geschafft haben, die ganze Gruppe mitzunehmen bei Netto 0 bis 2050 sowie bei den Meilensteinen 2030. Bis dahin wollen wir 70 Prozent der CO2-Emissionen im Betrieb und nahezu 30 Prozent in der Lieferkette reduzieren. Bei dieser Thematik arbeiten der Migros-Pionierfonds und die Nachhaltigkeit, also Hedy Graber und ich, Hand in Hand. Wir versuchen, das Engagement mit in die Lieferkette zu nehmen und zur Kundschaft zu bringen.

Warum ist das nötig?

Christine Wiederkehr-Luther: Damit wir zusammen mit den Kundinnen und Kunden das Klima schützen. Die Migros allein kann zwar schon Klimaschutz betreiben, und das tun wir auch schon seit über 40 Jahren: Wir trimmen unsere Prozesse auf Umweltfreundlichkeit, setzen auf grüne Technologien im Transport, forcieren fossilfreie Energie beim Heizen unserer Betriebe und in der Industrie und investieren in Solaranlagen. Obwohl bereits vor 2019 beträchtliche Treibhausgasreduktionen im Betrieb erreicht wurden, konnten diese von 2019 bis 2022 nochmals über 55 Prozent reduziert werden, im Kerngeschäft gar um knapp 63 Prozent. Doch vermehrt wurde uns klar: Ohne die Kundschaft und die Lieferanten in der Wertschöpfungskette bringen wir den Klimaschutz nicht hin. Das ist das Mehr, das wir jetzt bereits angestossen haben: Die Lieferanten motivieren, gemeinsam mit uns den Weg zu gehen. Und auch unsere Kundinnen und Kunden. Wenn wir nachhaltige Produkte im Laden haben, diese aber nicht gekauft werden, wird es schwierig.

Inwiefern hilft der M-Check, den Sie lanciert haben?

Christine Wiederkehr-Luther: Mit dem M-Check wollen wir die Kundschaft sensibilisieren, ohne den Mahnfinger zu erheben, und ihr eine faktenbasierte, wissenschaftlich abgestützte Orientierungshilfe bieten. Uns war besonders wichtig, dass man die verschiedenen Dimensionen wie Tierwohl, Klimaverträglichkeit, umweltfreundliche Verpackungen, Fisch aus verantwortungsvollen Quellen und Kreislauffähigkeit wirklich sieht. Denn manchen Menschen ist das Tierwohl wichtig, anderen eher der Klimaschutz. Auch hier wollen wir auf die Vielfalt der Gesellschaft eingehen.

Eine Person nimmt einen Ice Tea mit Zitronen-Geschmack aus einem Migros-Regal.

In einer neuen Umfrage von Sotomo werden die SBB und die Migros als die Unternehmen genannt, die am meisten für die Schweiz tun. Hat Sie das gefreut?

Hedy Graber: Mich macht das total stolz, mein Blut ist aber auch orange (lacht herzhaft). Es ist wichtig, lokal etwas bewegen zu können. Und daher ist es wunderbar, dass das Engagement der Migros bei so einer Umfrage gewürdigt wird. Wir sind ein typisch schweizerisches Unternehmen. Umso schöner ist es, wenn die Menschen, die in der Schweiz leben, sagen: «Das ist unsere Migros.»

92 Prozent finden in dieser Umfrage auch, dass es in diesen schwierigen Zeiten mehr Gemeinschaft und Solidarität braucht. Was tut die Migros, um dieses Wir-Gefühl zu stärken?

Hedy Graber: Wir versuchen, alle Menschen an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Ein Beispiel: Wir haben das Projekt «ici. gemeinsam hier.» lanciert. Das reicht vom gemeinsamen Fussballspielen bis zu Patenschaften für junge Asylsuchende. Mit dem Migros-Pionierfonds haben wir das Projekt SINGA Factory unterstützt. Es soll Geflüchteten, die vorher Unternehmer*innen waren, helfen, auch in der Schweiz ein Geschäft aufzubauen. Die Migros Basel hat zudem die Plauderkasse eingeführt. Dort können Kundinnen und Kunden, die das Bedürfnis haben, einen Schwatz halten.

Was ist dabei wichtig?

Hedy Graber: Dass ein Wir-Gefühl entsteht. Und das geht nur, wenn Menschen gemeinsam etwas machen – und alle das Gefühl haben, dass sie auch einen Beitrag für das Ganze leisten können.

Einer GfK-Umfrage zufolge ist die Migros auch das beliebteste Schweizer Unternehmen. Was macht sie besser als andere Unternehmen?

Christine Wiederkehr-Luther: Wir haben einen Krieg in Europa, Inflation, Rohstoffknappheit und eine Klimakrise. Wir merken, dass die Kundschaft in unsicheren Zeiten verantwortungsvollen Unternehmen vermehrt ihr Vertrauen schenkt. Die GfK-Umfrage zeigte, dass vor allem die Jungen uns attestieren, dass wir uns ehrlich und umfassend engagieren. Die Kundschaft sucht in unsicheren Zeiten auch Orientierungshilfe. Dort können wir gut ansetzen. Etwa mit dem M-Check oder mit vielen Recycling-Möglichkeiten.

«Dutti wollte schon in den 50er-Jahren eine Ökolinie starten.»

Christine Wiederkehr-Luther, Leiterin Direktion Nachhaltigkeit Migros Gruppe

Wo ist die Migros richtig gut?

Hedy Graber: Unter anderem bei den Pionierprojekten. Wir haben mit dem Pionierfonds, den wir vor über zehn Jahren aufbauen konnten, ein Instrument geschaffen, das sehr früh Tendenzen in der Gesellschaft aufgreift. Wir haben beispielsweise schon vor mehreren Jahren angefangen, Start-ups zu unterstützen, die sich im Bereich Kreislaufwirtschaft betätigen. Und wir haben schon vor einigen Jahren das Projekt «Stop Hate Speech» unterstützt. Das Projekt sucht mit Hilfe eines Algorithmus im Internet nach Hassreden. Das heisst, man schlägt das Netz mit den eigenen Waffen. Mit den Pionierprojekten haben wir einen guten Seismografen für das, was kommt.

Christine Wiederkehr-Luther: Die Pionierhaftigkeit haben wir auch in der Nachhaltigkeit. Dutti hat schon in den 1950er-Jahren probiert, eine ökologische Linie zu lancieren. Aber damals hat das niemand verstanden, weil er seiner Zeit weit voraus war. Mit dem M-Sano-Programm in den 1970er-Jahren gab es zum ersten Mal eine Linie, die auf nachhaltige Landwirtschaft setzte. Auch heute versuchen wir, neue Themen anzugehen, die bei der Kundschaft teilweise noch nicht so angekommen sind.

Dutti im Gespräch mit zwei Frauen.

Welche wären das?

Christine Wiederkehr-Luther: Etwas, das uns noch stark beschäftigen wird, ist die Biodiversität und der Schutz unserer Ökosysteme wie Wälder, Gewässer, Moore. Alle reden von der Klimakrise, aber Fachleute sagen, dass die Biodiversitätskrise noch viel grösser ist und beide Krisen gemeinsam angegangen werden müssen. Investitionen in Klima und Biodiversität sichern unsere Lebensgrundlage und Nahrungsmittelsicherheit. Ohne Bestäuber wie die Bienen bleiben beispielsweise unsere Supermarktregale leer.

Was bedeutet das für die Migros?

Christine Wiederkehr-Luther: Als grösste Abnehmerin von IP-SUISSE-Produkten verkaufen wir zum Beispiel nur noch Trinkmilch mit mindestens  IP-SUISSE-Standard und setzen als erstes Unternehmen in der Verarbeitungsindustrie IP-SUISSE-Zucker ein, weil das der Biodiversität hilft. IP-SUISSE sorgt beispielsweise auf den landwirtschaftlichen Betrieben für Lebensräume für Insekten sowie seltene Wildtiere und Wildpflanzen. Wir kümmern uns auch verstärkt um sogenannte entwaldungsfreie Lieferketten. Also um einen Anbau von Rohstoffen, bei dem kein Wald zerstört wird. Denn insbesondere die Rodung des Regenwaldes ist das, was die Biodiversität weltweit zerstört und zur Erwärmung unseres Klimas beiträgt. In der Vergangenheit wurde für Landwirtschaftsflächen Wald gerodet. Das muss aufhören. Auch wenn wir sehr schweizerisch sind mit unseren Eigenprodukten: Wir müssen global denken. Gerade auch bei Kaffee und Kakao sowie Palmöl.

Blumenfeld vor Solarpannels

Wo muss die Migros noch besser werden?

Hedy Graber: Besser werden kann man immer! Wir haben eine sehr hohe Glaubwürdigkeit in vielen Bereichen, was sich auch in den genannten Umfragen spiegelt. Aber ich glaube, wir müssen mehr darüber reden, was wir alles für die Gesellschaft machen: von der Kultur über Bildung, Freizeit und Soziales bis hin zu Pionierprojekten.

Christine Wiederkehr-Luther: Wir werden sicher bezüglich CO2-Emissionen in unseren Lieferketten noch viel mehr machen als früher. Wir haben eine umfassende Treibhausbilanz erstellen lassen für die ganze Migros-Gruppe. Wir stellten dabei fest, dass 98 Prozent unserer CO2-Emissionen in den vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsketten erzeugt werden. Und dort vor allem im landwirtschaftlichen Anbau. Das wollen wir umfassend angehen und nicht nur punktuell etwas unternehmen. Auch Fleisch ist sehr klimaintensiv. Hier bieten wir Alternativprodukte wie beispielsweise unser pflanzenbasiertes V-Love-Sortiment oder investieren in künstlich hergestelltes Fleisch.

Welche Kritik an der Migros finden Sie berechtigt, wenn es um Nachhaltigkeit geht?

Christine Wiederkehr-Luther: Wir wurden in der Vergangenheit für unsere Migros-Manias kritisiert, also Verkaufsaktionen mit reinen Massenartikeln. Ich fand das gerechtfertigt. Wir konnten erwirken, dass wir jetzt auf solche Aktionen verzichten, und haben klare Nachhaltigkeitskriterien für Promotionen aufgestellt. Ich bin darauf sehr stolz, denn wir tun das, obwohl die Kundschaft immer noch auf solche Aktionen anspricht und sich damit Umsatz erzielen lässt. Anstelle von Plüschtierpromotionen setzen wir jetzt mehr auf Spendenaktionen wie letztes Jahr «Support Your Sport» und aktuell «Support Your Culture». Dort kann man seinen Einkaufsrabatt für einen Verein im Dorf oder in der eigenen Region spenden.

Was hat sich über die letzten Jahrzehnte gesehen verändert?

Christine Wiederkehr-Luther: Früher hiess es: «Es gibt die Frau Wiederkehr mit ihrer Abteilung Umwelt beziehungsweise Nachhaltigkeit. Die soll da mal schauen.» Heute ist Nachhaltigkeit beim Management angekommen und muss integraler Bestandteil des täglichen Business und der Kernprozesse werden. Wenn der Einkäufer bei der Beschaffung nicht an die Nachhaltigkeit denkt, dann haben wir schon verloren. Nachhaltigkeit muss sozusagen von der Beilage zur Hauptzutat werden.

Hedy Graber: Auch der Dialog ist sehr wichtig geworden. Wir haben als Firma früh angefangen, mit der Bevölkerung über die unterschiedlichsten Bedürfnisse zu reden. Denn das, was wir machen, machen wir ja für sie. Der Dialog hat sich entwickelt – bis hin zur Abstimmung über den Alkohol letztes Jahr. Diese hatte mit dem Oui- und Non-Bier auch eine humorvolle Note. Auch das ist für mich die Migros: Demokratie und nahe bei den Leuten sein, mit Augenzwinkern. Wir sind ansprechbar und nahbar.

Welches Engagement der Migros nehmen Sie persönlich am liebsten in Anspruch?

Hedy Graber: Ich bin logischerweise auch Kundin der Migros respektive der ganzen Migros-Gruppe. Dazu geniesse ich die zahlreichen kulturellen Angebote des Migros-Kulturprozents.

Christine Wiederkehr-Luther: Ich bin ein Riesenfan des Migros Ski Day und der Migros-Angebote für Familien. Als meine Tochter noch kleiner war, war ich sehr oft im Park im Grünen. Das Angebot der Migros für Familien ist schon seit Jahrzehnten sehr breit und reicht von Sport bis zur Volksoper. Auch das fördert das Wir-Gefühl. Ich schätze diese Engagements persönlich sehr – unabhängig davon, ob ich bei der Migros arbeite.

Und wie leben Sie selber Nachhaltigkeit?

Hedy Graber: Ganz pragmatisch und indem ich im Alltag so konsequent wie möglich bin. Als Individuum kann man mehr beeinflussen, als man denkt. Ich habe zum Beispiel seit über 25 Jahren kein Auto mehr. Ich will auch keines mehr. Heute ist es ein Trend, früher war ich oft die Einzige, die jeweils mit den ÖV zu Sitzungen kam.

Christine Wiederkehr-Luther: Auch ich bin praktisch nur mit dem ÖV unterwegs. Und ich bin ein pingeliger Recycling-Nerd. Ich habe vor fast 17 Jahren als Projektleiterin beim Recycling-Engagement angefangen, bin also im Abfallbusiness gross geworden. Darum weiss ich sehr genau, welche Konsequenzen es hat, wenn ich den Abfall nicht richtig trenne. Ich weiss, welcher Mehraufwand und welche Kosten entstehen, wenn ich die Luft nicht richtig aus den PET-Flaschen drücke. Und welche CO2-Emissionen das zur Folge hat.

Hedy Graber (lacht): Du musst mal ein Tutorial machen. Da könnte ich sicher noch viel lernen!