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Aus der Armut zurück ins Leben
Armut kann ganz plötzlich eintreten. Der Weg hinaus ist hingegen lang und beschwerlich. Elif Kaya geht ihn.
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Bitten Stetter hat ein international bekanntes Modelabel. Bis ihre Mutter nach langer Krankheit an Krebs stirbt. Heute designt sie Produkte für den letzten Lebensabschnitt. Damit will sie vor allem zum Nachdenken anregen.
«Kannst du mir etwas Schönes zum Anziehen kaufen?» Diese Frage hat das Leben von Bitten Stetter verändert. Gestellt wird sie 2015 von ihrer Mutter. Diese liegt damals im Spitalbett, den Körper im fahlen Nachthemd, den Krebs bereits in den Knochen.
Stetter zieht sofort los. Sie durchforstet Läden und Internet nach Kleidern, die ihrer Mutter gefallen könnten und den Pflegenden nicht im Weg sind. Vergebens. Schliesslich kauft sie einen gewöhnlichen Pyjama, holt aus dem Keller die alte Nähmaschine und gestaltet ihn um: Hinten ein Spalt mit Knopfleiste, an die Hosen kommen Schnüre, die sich leicht öffnen lassen. Kein Problem für eine international bekannte Designerin. Später wird daraus eine eigene Marke entstehen.
«Dass wir uns mit schönen Dingen umgeben wollen, hört nicht auf, nur weil wir krank sind», sagt Mirjam Weber. Sie ist Oberärztin auf der Palliativstation im Kantonsspital Olten und begleitet Menschen, die oft schon viele Jahre krank sind und sich ihrer letzten Wegstrecke nähern.
Menschen, wie damals Stetters Mutter. Mit Nackenschmerzen sei diese 2011 zum Arzt gegangen, erzählt die 52-Jährige bei einem Treffen in ihrem Care Atelier in Zürich. Einem Ort, der auf den ersten Blick nicht wirklich zum Sterben passen will: Hinter ihr farbenfrohen Schnabeltassen aus Keramik, im Schaufenster eine Vasenkerze mit Papierblumen und an den Seiten lange Kleider mit Batik-Mustern.
«Sie erhielt die Diagnose Lungenkrebs», sagt Stetter und packt die folgenden vier Jahre in drei Wörter: Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung. Dann endlich, aufatmen. «Die Ärzte sagten, sie sei wieder gesund.» Noch in der Reha feiert die Familie den neuen Lebensabschnitt. Fünf Monate später stirbt Stetters Mutter. Der Krebs streute bereits in die Knochen.
«Mit jeder neuen Behandlung hast du wieder Hoffnung», sagt Stetter, hält inne. Der Blick hinter der schweren braunen Brille senkt sich zur Tischplatte. «Ich glaube», fährt sie schliesslich fort, «dadurch verdrängt man, dass es bald zu Ende gehen könnte.»
Nach dem Tod ihrer Mutter will sie vor allem verstehen. Wie konnten sie so unvorbereitet sein? Sie pausiert ihr Modelabel, das sie seit 15 Jahren führt und sie weltweit an Ausstellungen brachte. Auch von ihrer Stelle als Professorin für Design an der Zürcher Hochschule der Künste nimmt sie eine Auszeit.
Stattdessen wechselt sie nun Bettpfannen und hält die Hand von Sterbenden, im Rahmen eines Praktikums auf der Palliativstation am Zürcher Waidspital. Parallel beginnt sie zu forschen. «Sterbesettings», so der Name des Projekts, geht der Frage nach, wie man das Lebensende anders gestalten könnte. «Wir packen das Sterben zum Tod. Doch da gehört es nicht hin. Es ist eine Phase des Lebens.»
Diese Phase will Stetter gestalten. Noch während ihrer Forschung entwickelt sie erste Prototypen. Am Anfang waren es vor allem praktische Dinge, sagt sie. Zum Beispiel? Sie will es zeigen. «Die Idee für die Bettbox entstand», so Stetter, in der Hand eine Aufbewahrungsbox mit zwei Aufhängern, «als meine Mutter noch im Spital war.» Dort habe diese ständig nach ihren Sachen gesucht. Handy, Brille, Strickzeug, alles war immer irgendwo ausser Reichweite. Das führte regelmässig zu Stresssituationen, weshalb Stetter eines Tages nach Hause ging, aus der Garage einen alten Fahrradkorb holte und ihn der Mutter ans Spitalbett hängte. So konnte sie ihre Habseligkeiten verstauen und hatte sie trotzdem immer griffbereit.
Stetter führt weiter zu den Nachthemden. «Im Spital tragen alle dieselbe anonyme Kleidung.» Also habe sie mit Farben und Materialien experimentiert. Durch Zufall entstand dann der Turnarounder. «Ich habe ein Spitalhemd verkehrt herum angezogen und bemerkt, dass es so aussieht, wie ein gewöhnlicher Mantel.» Sie entwickelte ein Hemd, das in guten Zeiten als Kleid und in schlechten als Pflegehemd getragen werden kann.
Es gesellten sich weitere Dinge dazu, wie Handyhalter für den Bettaufhänger, magnetische Pillendosen, Greiflöffel oder Würfelsets. Letztere laden ein, spielerisch über unangenehme Themen zu sprechen wie zum Beispiel die gewünschte Behandlung, das Begräbnis oder Ängste.
«Die wenigsten von uns werden einfach einschlafen. Sterben ist kein Ereignis, sondern ein Prozess», so Stetter. Mit ihrer Arbeit hofft sie, nicht nur funktionellen Nutzen zu schaffen. Sie will einen gesellschaftlichen Wandel. «Wir müssen verstehen, dass wir Natur sind und somit endlich.» Aus dieser Überlegung heraus entstand schliesslich auch der Markenname: Finally, auf Deutsch: Endlich.
Akzeptieren, dass wir sterben werden. Ein Thema, das auch Oberärztin Mirjam Weber umtreibt. «Wir sind eine Gesellschaft, die alles bis ins Detail plant, nur auf das Lebensende sind wir nicht vorbereitet», sagt sie, die Hände in den Taschen ihres weissen Kittels. Sie führt in ein Nebenzimmer, wo an einer Stange bunte Hemden und Baldachine hängen. Das Oltner Spital ist eines der ersten, das die Produkte von Finally bereits einsetzt.
Die Rückmeldungen seien bisher sehr positiv, sagt Weber. Gerne würde das Spital noch mehr Produkte kaufen, doch das Budget ist knapp. Nur mit Hilfe von Stiftungsgeldern konnte man sich diese überhaupt leisten. «Wir produzieren derzeit noch in kleinen Stückzahlen, deshalb sind die Preise noch etwas hoch», sagt Stetter dazu. Sie hofft, dass bald mehr Spitäler aufspringen. Dank der Unterstützung des Migros-Pionierfonds konnte sie ihr Team erweitern und das Projekt auf die nächste Stufe bringen.
Eine Frau, bei der das Sterben Alltag ist. Da kommt man um eine Frage nicht umhin: Wie denkt Stetter über ihr eigenes Lebensende? Sie sagt: «Wenn es so weit ist, hoffe ich, dass mir bewusst ist: Lebensqualität ist wichtiger als Lebensdauer.»
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