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Elif Kaya (Name geändert) ist draussen im Wald.

Migros-Kulturprozent

Aus der Armut zurück ins Leben

Armut kann ganz plötzlich eintreten. Der Weg hinaus ist hingegen lang und beschwerlich. Elif Kaya geht ihn. Vor allem für ihre drei Kinder.

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Deborah Bischof
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Gabi Vogt
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Was wir tun

Es gab Tage, da blieb das Znünitäschli ihrer Kinder leer. Dann meldete Elif Kaya sie im Kindergarten krank. Weil sie sich schämte. Dabei ist Armut nichts, das man sich aussucht. Dahinter steckt immer eine Geschichte.

Die von Elif Kaya beginnt auf dem ­Küchentresen. Draussen ist es noch dunkel, als sie ihm die Scheidungspapiere hinlegt. «Du musst gehen», sagt sie. Ganz sachlich, als hätte sie keine Tränen mehr übrig. Er ist verdutzt, schreit, woher sie den Mut habe, ihn zu verlassen. Dann geht er. Lässt zwei Kinder zurück und 200 Franken in bar. Es wird das letzte Geld sein, das sie von ihm sieht. So erzählt es Kaya.


Alleinerziehend als Risikofaktor

In der Schweiz leben 702’000 Menschen in Armut. Besonders oft betroffen sind ­Alleinerziehende. Rund ein Viertel von ­ihnen ist armutsgefährdet, fast jede achte ­alleinerziehende Person lebt unter dem­ Existenzminimum. Das zeigt die Statistik des Bundes. Fast immer sind es Mütter, denn sie übernehmen in den meisten Fällen die Kinderbetreuung.

Ihr jüngster Sohn hängt an ihrem Bein, als Elif Kaya in einem Vorort von Zürich die Tür öffnet. «Es tut mir leid, meine Kinder sind krank», sagt sie und sammelt ein paar kleine Pullover vom Boden auf. Im Fern­seher läuft ein Trickfilm, an den Wänden hängen Selfies mit den Kindern. Um die Ecke steht jener Tresen, an dem sie vor ­sieben Jahren die Scheidung forderte.

Es sei nie eine Frage gewesen, wer die Kinder nehme. «Ich hätte sie ihm aber auch nicht gegeben», sagt Elif Kaya. Sie ist 31 Jahre alt, mit türkischen Eltern in der Schweiz aufgewachsen. Eigentlich heisst sie anders. Heute schämt sie sich zwar nicht mehr. Aber als sie sich früher einmal in einer Zeitung äusserte, habe sie viel Hass erlebt. Fremde Menschen – und was sie am meisten verletzt hat, andere Mütter – haben ihr Leben bewertet, sie als schlechte Mutter ­beschimpft. Solche Kommentare möchte sie nicht mehr unter ihrem Namen lesen.


2206 Franken zum Leben

Ihr Mann sei der Versorger der Familie gewesen, erzählt sie. Als er sie mit nichts ausser 200 Franken zurücklässt, ist sie verzweifelt. Weil sie nicht weiter weiss, geht sie zum Sozialamt. Der Prozess dauert, das Geld lässt auf sich warten. Als sie noch 50 Franken hat, geht sie persönlich vorbei. Sie wisse nicht, wie sie ihre Kinder ernähren solle. Sie bittet um sofortige Hilfe.

Ob und wie viel Geld jemand bekommt, regelt die Schweizerische Konferenz für So­zialhilfe SKOS. Für Einzelpersonen liegt das Existenzminimum derzeit bei 1031 Franken, nicht eingerechnet sind Miet- und Gesundheitskosten. Alleinerziehende mit drei Kindern wie Elif Kaya erhalten 2206 Franken.

Sie bekommt die Beiträge. Trotzdem hat sie oft Mitte des Monats kein Geld mehr, weiss nicht, wie sie die nächste Miete bezahlen soll. Sie schreibt Freundinnen und Familie, fragt, ob sie ihr Geld liehen, damit sie etwas zu ­essen kaufen könne. Zudem belastet sie die Scheidung stark, sie fällt in eine Depression. Online bestellt sie Sachen, die ihr guttun, sie sich aber nicht leisten kann. Sie verschuldet sich.

«Ich habe nie gelernt, mit Geld umzu­gehen», sagt Kaya. Weder zu Hause bei den Eltern noch in der Schule. Erst in einem Kurs wird sie lernen, ein Budget aufzustellen. Seither setzt sie sich jeden Monat hin und teilt das Geld ein. Woche für Woche. Das falle ihr leichter, als über einen ganzen Monat zu planen. «So weiss ich, wenn ich am Donnerstag kein Geld mehr habe, dass am Montag wieder welches da ist.» Pro Woche bleiben etwa 200 bis 300 Franken. Mit den Kindern erstellt sie Essenspläne, kauft strikt nach Liste ein. Meistens kommt sie durch.


Keine Ausbildung, keine Chancen

Sich allein durchzuschlagen, ist Neuland für Elif Kaya. Sie lernt ihren Ex-Mann kennen, als sie 15 Jahre alt ist. Dann geht alles ganz schnell: Verliebt, verlobt, und schon planen ihre Eltern die Hochzeit. «In unserer Kultur läuft man nicht Händchen haltend durch die Gegend.» Eine Feier in Prinzessinnenkleid und Kutsche, einen Monat, bevor sie 18 wird.

Bald kommt das erste Baby. Es weint viel, Kaya schläft kaum noch. Es kommt zu Streitereien mit ihrem Mann. 17 Monate später das zweite Kind, eine Frühgeburt. Doch es ist ruhiger als das erste, die Lage entspannt sich etwas. Bis Kaya etwa drei Jahre später einen Teilzeitjob beginnt. Ihr Mann ist dagegen. Sie streiten wieder, er sei aggressiv geworden, teils auch gewalttätig. So erzählt es Kaya in ihrer Version.

An einem Morgen im Januar 2018 setzt sie der Ehe ein Ende. Es folgt ein zweijäh­riger Scheidungskrieg. Als er die Papiere ­endlich unterzeichnet, ist sie bereits von ihrem neuen Freund schwanger. Diese Beziehung hält nicht. «Lebenserfahrung ist nicht immer schön», sagt sie. Aber aus negativen Erfahrungen lerne man. Ob sie ihre Ehe bereue? «Nein», sagt sie sofort. «Schliesslich habe ich tolle Kinder.»

Nach der Trennung von ihrem Mann will sie selbst zur Versorgerin werden. Aber so einfach ist es nicht. Sie hat ihre Lehre als Coiffeuse mit 16 Jahren abgebrochen. Damit zählt sie zu den rund 14 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer, die nie eine Ausbildung abgeschlossen haben. Sie geraten laut Statistik doppelt so häufig in Armut wie Menschen mit Berufslehre.

Eine Frau im orangen Pullover hält zwei Plüschtiere und einen Würfel im Arm.
Viele alleinerziehende Mütter stehen finanziell unter grossem Druck und sind auf Unterstützung angewiesen.© Gabi Vogt

Mehr Unterstützung nötig

Kaya entschliesst sich, eine Lehre nachzuholen, möchte Schreinerin werden. Sie stösst auf «AMIE Zürich», ein Arbeitsintegrationsprogramm für junge Mütter ohne Erstausbildung. Alles passt, bis auf die Kosten. Das Sozialamt will die 2250 Franken pro Monat nicht übernehmen. Also versucht sie es selbst, schreibt über 50 Bewerbungen. Verzweifelt. Zu keinem einzigen Gespräch wird sie eingeladen. Als sie nachfragt, sagt man ihr: Die Lehre sei zu anstrengend für eine Mutter mit drei Kindern.

«Armut ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem», sagt Nina ­Brüesch von der ZHAW Soziale Arbeit. Alleinerziehende Mütter ohne Abschluss seien oft in ihrer Situation blockiert. Abhilfe schaffen könnten lebensweltorientierte ­Bildungsangebote wie Teilzeitlehrstellen. «Viele Mütter stehen auch finanziell unter grossem Druck», so Brüesch. Es brauche auch da mehr Unterstützung. Eine Möglichkeit wären etwa Familienergänzungsleis­tungen, wie sie einige Kantone bereits heute auszahlen. Eine andere wären günstige oder gar kostenfreie Kinderbetreuungsplätze.

In Kayas Fall bezahlt das Sozialamt die Kita. Trotzdem findet sie allein keine Lehrstelle. In jedem Gespräch mit ihrer Sozialarbeiterin bringt sie «AMIE Zürich» wieder auf, schreibt parallel E-Mails an den Verantwortlichen des Sozialamts und an den Kanton Zürich. Dann endlich, nach drei Jahren, die Zusage.


Flexible Arbeitgeber gefragt

Im Februar 2022 steigt sie in das Programm ein. «Ziel ist, dass Mütter eine Lehrstelle finden und erfolgreich abschliessen», sagt Nadja Fuchs. Sie leitet die Angebote von «AMIE ­Zürich», die vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk SAH Zürich angeboten werden.

Wenn Kaya von den eineinhalb Jahren bei «AMIE Zürich» erzählt, sprudeln die Geschichten. Sie erinnert sich, wie sie von Anfang an gut in Mathematik war. Wie die anderen Frauen sie fragten, was sie hier mache, obwohl sie so gut Deutsch spreche. Wie sie im Fach «Frau, Mutter und Gesellschaft» über die Rolle der Frau diskutierten. Wie sie lernte, eine Budgetplanung aufzustellen und Bewerbungen zu schreiben.

Trotzdem gelingt es ihr nicht, eine Lehrstelle als Schreinerin zu finden. Ihre Coachin empfiehlt ihr, sich als Fachfrau Hauswirtschaft zu bewerben. Ein Regionalspital lädt sie schliesslich zur Schnupperwoche ein. «Es lief alles schief», erinnert sich Kaya. Schon am ersten Tag ruft die Schule an, ihre Tochter sei krank, sie müsse sie abholen. Am dritten Tag fängt sie sich ein Virus ein, ist den Rest der Woche krank. «Als Mutter von drei Kindern ist immer etwas.» Umso mehr Verständnis braucht es seitens der Arbeitgeber.

Verständnis, das ihr das Spital entgegenbringt. Sie bekommt die Lehrstelle. Heute ist sie im zweiten Jahr, arbeitet mittlerweile 80 Prozent. «Sie sagten mir von Anfang an, dass ich reduzieren darf, wenn ich in der Schule gute Noten habe.» Also lernt sie doppelt. Denn sie hat ein Ziel: Nach der Lehre will sie 5500 Franken verdienen und sich endlich von der Sozialhilfe lösen.


Ein Tag ohne Pause

Dafür nimmt sie viel auf sich. Frühmorgens bringt sie ihren Sohn zur Kita. Wenn die beiden älteren Kinder aufstehen, reinigt sie im Spital bereits Bettwäsche oder bereitet Operationssäle vor. Abends kocht sie, macht mit den Kindern Hausaufgaben, bringt sie ins Bett. Dann setzt sie sich hin und lernt.

Zeit für sich bleibt Kaya kaum – nur die erste Stunde des Tages. Um fünf Uhr, wenn die Kinder noch schlafen. Dann macht sie sich einen Kaffee, setzt sich auf ihr Sofa und hört türkische Popmusik.

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