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Zeitstress
Nie zuvor hatten wir in der Schweiz so viel Freizeit wie aktuell. Gleichzeitig sind wir gestresster denn je. Das zeigt eine Studie des Gottlieb-Duttweiler-Instituts. Der Zeitforscher und Psychologe Marc Wittmann erklärt, wie Entspannen geht.
Freie Zeit und Stress sind ein Widerspruch, könnte man meinen. Wieso sind wir trotzdem gerade in der Freizeit oft gestresst? «Wir tun uns schwer damit umzuschalten», erklärt Marc Wittmann. Von Montag bis Freitag befinden wir uns bei der Arbeit in einem Hamsterrad. Kopf und Körper sind im Aktivitätsmodus – und bleiben es auch nach Feierabend und am Wochenende, weil wir nicht runterkommen können. Für die Übergangsphase helfe ein Ritual. «Persönlich mache ich immer Yoga, wenn ich nach Hause komme. Ein kurzer Spaziergang hat dieselbe Wirkung: Beim entspannten Gehen komme ich in den Ruhemodus.» Wittmann empfiehlt, den Nachhauseweg, oder zumindest eine Teilstrecke davon, zu Fuss zu gehen und dabei zum Beispiel über den Tag nachzudenken. Indem man sich also bewusst mehr Zeit nimmt für den Heimweg, hat man hinten raus weniger Stress.
Einfach mal nichts tun! Der Tipp klingt einfach, ist aber im Alltag gar nicht so leicht umzusetzen. «Machen Sie fürs Wochenende keine Pläne und schon gar keine Listen», rät Wittmann. Man soll Langeweile zulassen und aushalten, denn im besten Fall schlägt sie in Musse um, und es kommen einem die besten Gedanken. Aber was, wenn kleine Kinder einen Strich durch die Rechnung machen und beim «Dolce far niente» stören? «Natürlich ist jeder Fall individuell. Aber Sie könnten mal versuchen, morgens liegen zu bleiben und die Kinder derweil allein herumtoben lassen.» Und wie erledigen sich Einkauf, Wohnungsputz und das Bezahlen von Rechnungen? «Es ist alles eine Frage des Masses. Gewisse Dinge müssen getan werden. Erledigen Sie das Nötigste am Samstag, und widmen Sie den Sonntag dem Nichtstun.»
Für Freundschaften bleibt zu wenig Zeit. Was tun? «Ich gebe Ihnen eine Hausaufgabe: Rufen Sie mal eine Freundin oder einen Freund spontan an und plaudern Sie zehn Minuten», so Wittmann. Es müsse nicht immer das Feierabendbier sein, bei dem man drei Stunden sitzen bleibe. Was ist, wenn man mit Freunden oder der Familie etwas unternehmen möchte, zum Beispiel eine Wanderung? Das klappt kaum ohne Planung. «Gegen schöne Erlebnisse ist nichts einzuwenden. In der Tat fühlt sich ein Wochenende im Rückblick länger an, wenn Sie dabei neue Erinnerungen bilden konnten. Aber planen Sie nicht zu straff, sodass Sie nicht um eine genaue Uhrzeit auf einem bestimmten Parkplatz zurück sein müssen. Vielleicht ist es in einer Beiz unterwegs viel lustiger.»
Ein Problem: Arbeits- und Freizeit verschmelzen zunehmend. Auf dem Handy ploppen auch nach Feierabend noch Nachrichten der Vorgesetzten auf. Und wieso im Homeoffice nicht schnell noch nach dem Abendessen am Computer etwas für den nächsten Tag vorbereiten? Dazu kommen die sozialen Medien. Wittmann arbeitet gerade an einer europaweiten Studie, die zeigt, dass die meisten Leute nach der Beschäftigung mit Social Media ein schlechtes Gewissen haben. Wittmanns Tipp ist radikal: Beim nächsten Spaziergang im Wald – «die Farbe Grün beruhigt» – das Handy ganz zu Hause lassen. Oder mindestens zu Hause mal für ein paar Stunden in einem anderen Raum liegen lassen, unangetastet. «Lesen Sie am Wochenende eine Zeitung wieder mal in Papierform.»
Fünf Personen in der Schlange vor der Supermarktkasse? Da werden die meisten ungeduldig. «Was aber passiert, wenn wir uns ärgern? Wir nehmen unseren Körper noch stärker wahr, dadurch dehnt sich die Zeit gefühlt aus. Das Warten kommt uns also noch länger vor», erklärt Wittmann. Dabei könnten wir unsere Haltung ändern und die Wartezeit freudig annehmen: «Endlich fünf Minuten nur für mich!» «Nutzen Sie die unerwartet gewonnene Zeit, um die Menschen um sich herum zu beobachten oder um ihren Gedanken nachzuhängen. Sie werden sofort gelassener.»
60 Prozent mehr Freizeit als vor 150 Jahren
In den vergangenen 150 Jahren hat die Arbeitszeit stetig abgenommen. Gegenüber 1870 arbeiten wir heute 50 Prozent weniger. Die Freizeit dagegen hat sogar noch mehr zugenommen, um 61 Prozent. Weitere technologische Fortschritte und künstliche Intelligenz werden diesen Trend in Zukunft noch verstärken.
Fast jeder Dritte ist im Dauerstress
30 Prozent der Erwerbsfähigen (zwischen 15 und 64 Jahren) leiden häufig oder fast immer unter Zeitstress.
Das sorgt für Stress
Verpflichtungen gegenüber anderen geben fast ein Drittel aller Befragten als Grund für Freizeitstress an. An zweiter Stelle steht Hausarbeit mit gut 30 Prozent, knapp gefolgt vom Anspruch ständiger Erreichbarkeit. Digitale Medien sorgen bei 21 Prozent der Menschen für Stress. 40 Prozent derjenigen, die häufig oder fast immer Zeitstress verspüren, sind mit ihrem Leben nicht zufrieden.
Was uns guttut
Zeit mit der Familie oder Freunden verbringen, entspannen, essen, Outdooraktivitäten, Neues erlernen, lesen und kochen: In den Augen der befragten Personen sind das die Tätigkeiten, die wirklich bedeutungsvoll und sinnstiftend sind.