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David Bosshart in der Bibliothek des GDI in Rüschlikon.

Interview mit David Bosshart

«Wir hoffen auf ein eindeutiges Resultat»

Die Duttweiler-Stiftung versteht sich als moralisches Gewissen der Migros. David Bosshart erklärt, warum ihm die Alkoholabstimmung Sorgen bereitet.

Von
Kian Ramezani
Datum
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Interview

Mit einer Stiftung wollten Gottlieb und Adele Duttweiler einst sicherstellen, dass die Migros auch in Zukunft im Sinn ihrer Gründer weiterlebt. Dieser Aufgabe verschreibt sich die G.-und-A.-Duttweiler-Stiftung bis heute. Aktuell beschäftigt sie die Frage, ob der Verkauf alkoholischer Getränke mit den Migros-Werten zu vereinbaren ist. Für die kommende Urabstimmung hat die Stiftung Stimmfreigabe beschlossen. David Bosshart, seit 2020 Präsident des Stiftungsrats, erläutert warum.

Das Alkoholverbot gehört seit bald hundert Jahren zur Migros und gilt für viele als wichtiger Wert. Sehen Sie das auch so?

David Bosshart: Man kann auf demokratischem Weg alles ändern in der Migros. Das begrüsst die Stiftung. Aber so einfach wie eine neue Käsesorte lassen sich Wein und Bier nicht einführen. Das Alkoholverbot ist ein Kernwert der Migros-Identität, der über Jahrzehnte gewachsen ist …

… und der jetzt in einer Urabstimmung abgeschafft werden könnte.

Bevor sie diesen Kernwert abschafft, sollte die Migros erklären, womit sie ihn ersetzt. Zu sagen, sie leiste zum Beispiel übers Kulturprozent schon viel für die Gesellschaft, ist zwar richtig und gut, aber auch ein bisschen bequem.

Tatsächlich hat die Migros neben dem Alkoholverbot noch andere wichtige Werte.

Eben, es geht gar nicht so sehr um den Alkohol, sondern um die Frage, wie wir mit unseren Kernwerten insgesamt umgehen und glaubwürdig bleiben. Falls im Juni einige Genossenschaften Ja sagen zum Alkohol und einige Nein, dann haben wir einen Flickenteppich und schaden der kommerziellen und der ideellen Gemeinschaft, der Solidarität und der Einfachheit des Angebots. Das gehört zum Kern der Migros-Werte …

… ebenso wie die Autonomie der Genossenschaften. Werte können einander auch widersprechen. 

Für Duttweiler war Demokratie kein Selbstzweck, sondern diente immer der Stärkung der Migros-Gemeinschaft insgesamt. Die Stiftung hätte für die Urabstimmung eine Zusatzfrage begrüsst, ob zum Beispiel bei einer Mehrheit von sechs Genossenschaften für den Alkohol die anderen vier ebenfalls verpflichtet werden sollen, dies umzusetzen. Umgekehrt ebenso bei einer Nein-Mehrheit. 

Der Stiftungsrat selbst hat Stimmfreigabe beschlossen. Warum?

Weil das in der aktuellen Situation die beste Lösung ist. Die genossenschaftlichen Gremien haben ganz klar auf «Demokratie zuerst» gesetzt. Wir respektieren das, hoffen aber auf ein eindeutiges Resultat.

«Egoismus empfand Duttweiler als das grösste Übel.»

David Bosshart

Und was würde Duttweiler selbst sagen?

Die Spekulationen sind frei. Aufgrund seiner Schriften liegt die Vermutung nah, dass er weiterhin alles der Frage unterordnen würde, was die Gemeinschaft und die Ideen der Migros langfristig stärkt. Duttweiler war ein grossartiger Unternehmer aber auch ein grosser Idealist mit einem klaren, optimistischen Menschenbild. Er schuf einzigartige Strukturen, in der kommerzielle und nicht-kommerzielle Vorstellungen gleich viel gelten. Egoismus empfand er als das grösste Übel. Grosse Herausforderungen können wir nur gemeinsam lösen. In entscheidenden Werte-Momenten gibt es immer nur eine Migros.

Sie sprechen immer wieder die Gemeinschaft an. 

Weil die Stiftung sie als den zentralen Wert der Migros erachte. Dutti warf wichtige Fragen auf, die sich die Migros immer wieder stellen und beantworten muss: Was genau unterscheidet eine Genossenschaft von einer Aktiengesellschaft? Was heisst Beteiligung, sowohl ideell als auch materiell? Wie können wir Einfachheit erzielen, radikal kunden- und mitarbeiterorientiert handeln? Die Menschen in der Schweiz stellen an die Migros nach wie vor höhere Ansprüche als an ihre Mitbewerber. Das ist gut so und das müssen wir bewahren. Es wäre traurig, einem schleichenden Wandel nachzugeben und irgendwann feststellen zu müssen, dass man austauschbar geworden ist.

Sind Menschen in den vergangenen Monaten auf Sie zugekommen, um über diese Urabstimmung zu sprechen? 

Ja. Die Meinungen sind sehr unterschiedlich. Als ich kürzlich in Lausanne an der Hotelfachschule referierte, hat mich sogar ein asiatischer Student gefragt, warum die Migros nun Alkohol verkaufen wolle. In der Summe erschien mir: Je besser und länger jemand die Migros und ihre Geschichte kennt, desto eher ist er oder sie skeptisch gegenüber einer Einführung von Alkohol, aber nicht grundsätzlich negativ eingestellt. Verständnis für die heute zunehmende Convenience beim Einkaufen scheinen fast alle zu haben.

Die Migros-Gemeinschaft ist untrennbar mit ihren demokratischen Strukturen verbunden. Funktionieren sie?

Wichtige Abstimmungen wie die aktuelle geben tatsächlich einen guten Einblick in den Zustand des Unternehmens. Die Anlagen sind zweifellos gut, die Energie ist da und die Identifikation mit der Migros, vor allem auch bei der Basis. Wir können mehr Demokratie wagen in Zukunft, wie das Duttweiler vorsah. Dafür müssen wir aber noch viel Denk- und Überzeugungsarbeit leisten. Schön ist die Langfristorientierung in der Genossenschaft, aber wir sollten uns immer auch ambitionierte und verbindliche Ziele setzen. Vergessen wir nicht: Wenn die Gemeinschaft schwächer wird, wird auch die Demokratie schwächer. Demokratien können sich sogar selbst abschaffen, wie die Geschichte lehrt. Die Migros-Gemeinschaft ist stark, aber wir müssen ihr auch Sorge tragen.

Der Duttweiler-Stiftung obliegt die Wahrung der Gründerwerte. Sie sind seit 2020 Präsident des Stiftungsrats. Verstehen Sie sich als eine Art Gralshüter?

Wir müssen naturgemäss strenger sein und nicht jeder Zeitgeistbewegung klein nachgeben. Aber wir sind keine Fundis und kämpfen mit Argumenten. Die Stiftung moralisiert nicht, hat aber einen moralischen Auftrag. Sie nimmt zu wichtigen Fragen Stellung und bringt sich kontinuierlich in die verschiedenen Migros-Gremien ein. Eine schöne und verantwortungsvolle Aufgabe, die viel Leidenschaft, robuste Nerven und auch Mut verlangt.

Und hört man auf Sie?

(schmunzelt) Wir werden gehört, dazu braucht es keine lauten, sondern klare Botschaften.

David Bosshart (63) ist Präsident der Gottlieb-und-Adele Duttweiler-Stiftung. Von 1999 bis Ende 2020 leitete er das von der Migros unterstützte Gottlieb-Duttweiler-Institut für Wirtschaft und Gesellschaft (GDI) in Rüschlikon ZH. Der gelernte Kaufmann und promovierte Philosoph ist Autor zahlreicher Publikationen und gefragter Referent. Er hat eine erwachsene Tochter und lebt mit seiner Frau in Rüschlikon.