
Migros-Kulturprozent
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Migros-Kulturprozent
Trotz einer schweren Krankheit arbeitet Nicole Haas als Journalistin. Möglich macht das die Organisation «Reporter:innen ohne Barrieren», die beim Wettbewerb «Vielfältige Schweiz» gewonnen hat.
Am Samstagnachmittag rasch die Einkäufe erledigen und nachher grad die Wäsche machen? Für die meisten von uns Alltag. Für Nicole Haas unmöglich. Die 43-Jährige hat seit ihrer Jugend die neurologische und immunologische Krankheit ME/CFS. Wenn sie sich zu stark verausgabt, zahlt sie dafür einen hohen Preis. «Ich verliere dann schlagartig alle Energie und fühle mich tagelang so erschöpft wie nach einer schweren Grippe», sagt sie.
Die Bernerin vergleicht sich selbst manchmal mit einem alten Handy: Es ist zwar voll funktionsfähig, doch der Akku ist schnell leer und muss nachher endlos lange aufgeladen werden. Nur kann man ein ausgedientes Handy ganz einfach durch ein neues Modell ersetzen. Menschen, die unter ME/CFS leiden, müssen immer mit diesem Zustand leben.
Nicole Haas hat eine jahrzehntelange Leidensgeschichte hinter sich: In ihrer Pubertät traf sie die Krankheit erstmals mit voller Wucht. Sie bekam immer wieder schwere Erkältungen. Nach jeder Infektion dauerte es extrem lange, bis sie wieder gesund war. Ihr Hausarzt konnte ihr nicht helfen – ME/CFS war damals noch kaum erforscht. «Ich wollte als Jugendliche unbedingt normal sein», erinnert sich Haas. «Darum missachtete ich ständig meine Grenzen, ging immer wieder weit darüber hinaus.»
Verglichen damit geht es Nicole Haas heute gut. Sie hat nach langer Suche eine geeignete Arbeit gefunden: In Langenthal ist sie in einem Wohnheim für psychisch kranke Menschen im Einsatz, die sie mit Gesprächen bei der Genesung unterstützt. Seit 2022 schreibt sie zudem Artikel für Fachzeitschriften. In ihren sorgfältig recherchierten Beiträgen geht es oft darum, wie Menschen mit einer chronischen Krankheit ihr Leben meistern.
Dass Haas nun Teilzeit-Journalistin ist, verdankt sie dem Verein «Reporter:innen ohne Barrieren» (RoB). Seit drei Jahren engagiert er sich dafür, dass mehr Menschen mit einer Behinderung in den Schweizer Medien arbeiten. Interessierte bekommen zuerst einen 15-tägigen Einführungskurs in den Journalismus. Die angehenden Reporterinnen und Reporter können danach auf die Unterstützung von erfahrenen Medienprofis zählen, die sie als Coaches begleiten. Das Projekt hat beim Migros-Kulturprozent-Wettbwerb «Vielfältige Schweiz» einen Förderbeitrag gewonnen. Es wird auch von Stiftungen und vom Institut für Journalismus und Kommunikation (MAZ) unterstützt.
«Bisher arbeiten nur ganz wenige Menschen mit Behinderungen in den Schweizer Medien», sagt RoB-Geschäftsleiter Senad Gafuri. Das habe einen starken Einfluss auf die Berichterstattung. Das Thema Behinderung werde oft ignoriert. Und wenn nicht, so stelle man die Betroffenen als Opfer dar, aber kaum je als ganz normale Mitglieder der Gesellschaft. Wird etwa jemand befragt, der im Rollstuhl sitzt, geht es im Gespräch erst einmal um seine Gesundheitsprobleme und erst in zweiter Linie um seinen Beruf und seine Interessen. Die «Reporter:innen ohne Barrieren» führen Interviews dagegen anders, berichten klischeefrei über das Leben mit Behinderungen.
Gafuri möchte auch das Bewusstsein für die Sprache schärfen, in der über das Thema berichtet wird. «Oft verwendet man schamhafte Umschreibungen wie Handicap», erklärt er. «Dieses Wort signalisiert, dass das Problem allein bei der betroffenen Person liegt. Wenn man dagegen von Behinderungen redet, schliesst das mit ein, dass auch äussere Hindernisse und Barrieren eine Rolle spielen.»
Der Geschäftsführer wünscht sich, dass seine Organisation in Zukunft überflüssig wird. Dieses Ziel wäre erreicht, wenn irgendwann viele «Reporter:innen ohne Barrieren» im Einsatz sind und ihre Perspektive in die Medien einbringen. Bisher wurden elf Reporterinnen und Reporter ausgebildet. Senad Gafuri ist sich sicher: Jede und jeder von ihnen leistet einen Beitrag dazu, dass sich die öffentliche Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung allmählich verändert.
Den RoB-Journalistinnen und -Journalisten bringt das Projekt viel. Das zeigt das Beispiel von Nicole Haas. «Im Journalismus habe ich eine berufliche Heimat gefunden», sagt sie. «Wenn ich schreibe, gibt mir das Halt und auch ein Gefühl von Freiheit.»
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