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Maria Brehmer

Lifestyle

«Viele Menschen wollen nicht mehr trinken»

Maria Brehmer hat dem Alkohol abgeschworen und hilft jetzt anderen, davon loszukommen. Sie erklärt, warum Abstinente immer noch schräg angeschaut werden.

Von
Yvette Hettinger
Datum
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Interview

Maria Brehmer, seit Januar 2021 trinken Sie keinen Alkohol mehr. Wie kam es dazu? Gab es einen Schlüsselmoment?

Es waren vielmehr zahlreiche Momente, über Jahre hinweg. Ich litt immer mal wieder unter Katern und dachte oft: Es wäre so schön, wenn ich nicht mehr würde trinken wollen. Schon 2020 hatte ich mir vorgenommen, im neuen Jahr einen Aufhörversuch zu starten. Es wurde dann ein totales Aufhören.

Galten Sie denn nach der medizinischen Definition als Alkoholikerin?

Ich erfüllte nicht alle Kriterien. Zum Beispiel hatte ich nie körperliche Entzugssymptome, wenn ich mal eine Weile nichts trank. Ich war wohl eine Grauzonentrinkerin. Aber irgendwann stellte ich fest, dass ich psychisch-seelisch abhängig war, also in gewissen Situationen ein Verlangen nach Alkohol verspürte. Darum würde ich ein Alkoholproblem nicht unbedingt daran festmachen, dass man morgens mit Schweissausbrüchen und Zitteranfällen aufwacht.

Wie viel tranken Sie damals?

An drei bis vier Abenden pro Woche jeweils zwei bis drei Gläser, einmal davon mit spürbarem Rausch. Etwa einmal monatlich hatte ich einen grösseren Rausch.

Das ist ja gar nicht so viel.

Stimmt, und genau das ist das Trügerische. Viele denken, erst ab einer Flasche pro Tag ist es wirklich bedenklich. Aber wenn sich viele Gedanken um Alkohol drehen, ist bereits etwas nicht mehr im Lot, unabhängig von der konsumierten Menge. Ich zum Beispiel hätte gefühlsmässig gern mehr getrunken. Der Verstand sagte aber: Es ist nicht gut für dich! Deshalb stellte ich mir Regeln auf, wie «nur dreimal pro Woche zwei Gläser Wein» oder «nur einmal Alkohol, dafür Vollgas». Das lief so in den letzten Jahren vor dem Aufhören, aber ich konnte den Konsum nie richtig kontrollieren.

Dann wollten Sie der Vernunft mehr Raum geben.

Ich wollte vor allem diese anstrengenden inneren Debatten nicht mehr haben. Und ich erkannte: Wenn ich diese Zerrissenheit loswerden will, muss ich den Alkohol weglassen, ganz. Ich finde es auch schön, hie und da ein Glas Wein zu geniessen. Aber ich war nicht mehr bereit, den Preis dafür zu zahlen.

Hatten Sie körperliche Symptome?

Auch. Aber viel schlimmer waren Entzugserscheinungen wie Gereiztheit, Ängstlichkeit, innere Unruhe – immer wenn ich quasi «zu wenig» getrunken hatte. Es war ein ständiges Warten auf die nächste Trinkgelegenheit. Hatte ich hingegen mal «genug» getrunken, kamen die Kater. Dann hatte ich Herzrasen und -stolpern, Alpträume, Schweissausbrüche, manchmal fünf Tage lang. Oft war mir übel. Das war mir zu viel des Schlechten für die paar Momente des Genusses.

Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie mehr Alkohol tranken als gut für Sie war?

Unter Alkohol gehen ja bei den meisten Menschen Nervosität und Stress weg, sie fühlen sich lockerer. Und ich lernte schon in der Jugend, dass ich meinen seelischen Zustand mit Alkohol verbessern kann. Es ist auch total menschlich, dass man sich besser fühlen will, deshalb würde ich Alkoholkonsum nie verurteilen. Er führt aber dazu, dass man keine anderen Konzepte mehr entwickelt, um sich gut zu fühlen.

Man trinkt also an einer Party ein Glas Champagner und ist locker. Wie ist das heute für Sie?

Etwas schwieriger. Ich gehe sehr gern an Anlässe, aber ich ertrage nicht allzu viel Lärm und Menschen aufs Mal. Der Alkohol legte da immer eine Art Filter darüber, der mir heute manchmal fehlt. Ich trinke dann ein alkoholfreies Bier, ein Tonic oder ein Mineral und gehe zwischendurch frische Luft schnappen. Meist bleibe ich auch weniger lang, weil es anstrengender ist als früher.

Sie behaupten: «Ein Tag ohne Alkohol ist nicht das Gleiche wie ein Leben ohne Alkohol.» Was meinen Sie damit?

Nach meinem Entschluss hat sich sofort eine innere Ruhe und Zufriedenheit eingestellt. Das gelingt aber erst, wenn man weiss: Es gibt kein nächstes Glas, kein Warten auf die nächste -Gelegenheit. Ich muss nicht mehr über meinen Konsum nachdenken. Früher wollte ich das Trinken immer kompensieren, mit Sport, Detoxkuren, Safttagen, Fasten, Yoga und so weiter. Ich habe mir so viel auferlegt, dass es sehr anstrengend war. (lacht)

Tun Sie das nicht mehr?

Achtsamkeitsübungen mache ich immer noch – aber anders als früher esse ich ohne schlechtes Gewissen Chips und Schokolade und auch mal mehr als zwei Teller Pasta, wenn ich Lust habe. Und habe trotzdem mittlerweile fünf Kilo abgenommen, obwohl ich weniger Sport mache. Zudem ist meine Haut besser geworden, ich schlafe viel besser, bin leistungsfähiger, konzentrierter und tagsüber nie mehr müde. Mein Freund sagt manchmal, ich sei unerträglich gut drauf – das ist natürlich lieb gemeint, und es stimmt. Ich verspüre auch wieder mehr Kreativität.

Das klingt alles super, aber mal ehrlich: Nichts kann so einen süssen kleinen Schwips ersetzen, den man nach einem Glas Wein auf nüchternen Magen hat.

Wahrscheinlich stimmt das so. Aber meine Lebensqualität hat sich dermassen gesteigert, dass ich das Bedürfnis nach diesem süssen kleinen Rausch schlicht nicht mehr habe.

Zeichnet sich beim Alkoholkonsum eine Trendwende ab?

Tatsächlich gibt es immer mehr alkoholfreie Genussgetränke wie alkoholfreien Rotwein und Apéro- oder Gin-Alternativen. Immer mehr junge Menschen finden es cool, keinen Alkohol zu trinken. Auch sind mir auf Netflix ein, zwei Serien aufgefallen, in denen man bei Problemen nicht direkt in eine Bar rennt, sondern eher in den Wald. Irgendwo habe ich gelesen, dass mit den Trinkern das Gleiche passieren wird wie mit den Rauchern: Man gratuliert denen, die aufhören. Ich werde derzeit eher noch schräg angeschaut.

Verändert sich auch das Umfeld?

Höchstens zum Guten. Ich habe zum Beispiel entdeckt, dass meine besten Freundinnen alle fast nichts trinken. Früher habe ich sie eher dazu angetrieben, sie sind also ganz froh, dass ich ihnen nicht mehr im Nacken sitze. Auch hatte ich manchmal Streit mit meinem Freund, weil ich unter Alkoholeinfluss emotional wurde. Das passiert nicht mehr. Mein Freund trinkt immer noch hie und da ein Glas, und es stört mich überhaupt nicht. Auch wenn wir Besuch haben, darf getrunken werden. Die meisten Menschen, die ich kenne, trinken Alkohol. Damit muss man klarkommen, denn man will sich ja nicht allein in einem Zimmer einsperren.

Wie könnte es noch mehr Menschen leichter fallen, dem Alkohol abzuschwören?

Wenn wir Abstinente nicht mehr so behandelten, als wären sie ganz heftige Trinker gewesen. Das muss man nämlich nicht sein, um nichts mehr trinken zu wollen. So könnten wir es allen ein wenig leichter machen, sich für ein Leben ohne Alkohol zu entscheiden.

Hatten Sie nie einen Rückfall?

Nie. Zugegebenermassen gelüstet es mich schon, wenn ich ein angelaufenes Glas mit kühlem Rosé sehe. Weil ich es mit einem schönen Gefühl verbinde: Provence! Ferien! Doch sofort danach springt das neue Denkmuster an und sagt: Nö, lohnt sich nicht. Ich gönn mir dann einen Minzensirup.

Was müsste passieren, damit Sie wieder Alkohol trinken?

Ich kann mir nichts vorstellen. Ich weiss jetzt, dass mir das Nicht-Trinken Kraft gibt, das Trinken nicht.

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