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Urs Tinner und Ivan Casanova arbeiten zusammen im Büro von Delica

Arbeitswelt

Einen Gang runterschalten

Urs Tinner hatte einen tollen Chefposten bei der Migros-Industrie. Er hat ihn freiwillig an einen jüngeren Kollegen übergeben und das keinen Moment bereut.

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Michael West
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Julius Hatt
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Was wir tun

Urs Tinners Büro sieht ziemlich austauschbar aus: beiger Spannteppich, hellgrauer Schreibtisch, schwarzer Computer. Und doch sind wir an einem besonderen Ort: Der Raum gehört zu einem Gebäude der Migros-Tochter Delica in Meilen, die hier viele legendäre Produkte herstellt. In den Produktionshallen laufen im Frühjahr die Fasnachtschüechli übers Band. Auch die Stängeliglacen mit dem Seehund entstehen hier, ebenso die Farmer-Riegel oder die Blévita-Cracker. Tinner (52) gehört bei der Delica zum achtköpfigen Team der Absatzplanerinnen und -planer. Diese Fachleute versuchen für die Migros in die Zukunft zu blicken: Sie berechnen, wie hoch die Nachfrage nach Delica-Produkten in nächster Zeit sein wird. Von ihren Prognosen hängt ab, wie hoch der Verbrauch von Mehl, Zucker und Sonnenblumenöl ist und ob an manchen Maschinen in zwei, drei oder vier Schichten gearbeitet wird.

Besonders viele Fäden laufen beim Chef der Absatzplaner zusammen. Urs Tinner hatte diesen anspruchsvollen Posten über zehn Jahre lang inne. Anfang 2023 ist er ins zweite Glied zurückgetreten, freiwillig und geplant. Dabei hatte er seine Arbeit geliebt: «Ich sass an einer wichtigen Schaltstelle der Migros-Gruppe, war auf vielfältigste Art vernetzt», erzählt er. «Es war auch toll, meine Mitarbeitenden zu fördern: Ich wollte, dass alle ihre Talente voll entfalten können.»


Bloss kein Glace-Engpass

Wie präzise die Vorhersagen seines Teams sind, zeigt sich in den Migros-Supermärkten: Wenn an einem heissen Sommertag genügend Stängeliglacen vorrätig sind, so ist das nicht zuletzt den Delica-Absatzplanern zu verdanken. Kompliziert ist ihre Arbeit zudem, weil sie nicht nur für die Produkte aus Meilen zuständig sind, sondern auch für die Erzeugnisse der vier anderen Delica-Fabriken in Buchs AG, Birsfelden BL, Taverne TI und Stabio TI. Diese produzieren unter anderem Schokolade, Kaffee, Trockenfrüchte und Reis.

Wie lässt sich die Nachfrage nach all diesen Lebensmitteln überhaupt abschätzen? «Wir berücksichtigen möglichst alles, was einen Einfluss haben könnte», erklärt Tinner. «Wie wird das Wetter? Plant die Migros Preisabschläge? Und was macht die Konkurrenz?»

In seinen letzten Jahren als Chef fasste Urs Tinner den Plan, die Teamleitung an einen jüngeren Kollegen abzugeben. «Es ging mir nicht nur darum, meine Arbeitsbelastung zu verringern», sagt er. «Ich finde auch, dass ein neuer Chef eine grosse Chance sein kann: Es ist, als würde man ein Fenster öffnen und frische Luft hereinlassen.» Anfang 2023 kam es dann zum Rollentausch: Urs Tinner übergab den Chefposten an seinen 13 Jahre jüngeren Mitarbeiter Ivan Casanova. Er selbst widmete sich von nun an wieder ganz der Absatzplanung.

Was Tinner gemacht hat, ist in der Schweizer Wirtschaft noch immer eine Ausnahme, wird aber von der Migros unterstützt. Es gibt dafür viele Namen: Downshifting, einen Gang runterschalten, Bogenkarriere. Das Grundprinzip ist immer das Gleiche: Ein Mitglied des Kaders gibt schon Jahre vor der Pensionierung Verantwortung ab, macht in der Hierarchie freiwillig einen Schritt zurück, bleibt der Firma aber mit all seinem Wissen und seiner Erfahrung erhalten. Und gibt einer jüngeren Person die Chance, in eine Führungsposition hineinzuwachsen.


Rollentausch ohne Turbulenzen

Im Fall von Urs Tinner und Ivan Casanova war dieser Schritt besonders gut geplant. Monatelang tauschten sich die beiden über die Zusammenarbeit und die künftige Organisation aus, dann holten sie das Einverständnis der Vorgesetzten ein und zogen frühzeitig das Team ins Vertrauen.

Dass er seinen Chefposten nun los ist, hat Urs Tinner nie bereut. Er hat nun mehr Zeit für das Leben jenseits der Arbeit, besonders für Sport: An seinem Wohnort Rapperswil-Jona ist er in einen Unihockey- und einen Badminton-Club eingetreten. Er besucht öfter seine Eltern, die nach der Pensionierung in den Engandiner Ferienort Scuol umgezogen sind. Nichts verändert hat sich dagegen am Verhältnis zu seiner Familie: «Für sie war ich immer da, auch in den stressigen Phasen als Chef», versichert Tinner.

Bleibt die Frage, ob ein Rollentausch zwischen einem Chef und seinem Untergebenen nicht auch Spannungen auslösen kann: Ärgert sich nicht jeder Mensch mal über seinen direkten Vorgesetzten? Und macht diesem Groll nachträglich Luft, wenn sich das Machtgefälle plötzlich umdreht? «Zwischen Urs und mir gab es nie unterschwellige Spannungen», sagt dazu Ivan Casanova. «Der Rollentausch hat so gut funktioniert, weil wir schlicht das Heu auf der gleichen Bühne haben. Das war früher so und bleibt auch so.»

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