Geschichte
Duttis grösste Fehlschläge
Der Migros-Gründer war bekannt dafür, auch Risiken in Kauf zu nehmen und viel Neues auszuprobieren. Vier Beispiele.
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Gottlieb Duttweiler
Der Migros-Gründer hat mehr als nur das Einkaufen neu erfunden. Er war ein Politiker wider Willen, ein mutiger Querdenker und ein charmanter Choleriker. Dafür wurde er geliebt und gehasst.
«Dutti der Riese» ist ein Dokumentarfilm von Martin Witz aus dem Jahr 2007. Der Film porträtiert den Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler.
Gottlieb Duttweiler (geboren am 15. August 1888 in Zürich) wuchs mit vier Schwestern auf. Sein Vater, ein ehemaliger Wirt, arbeitete als Verwalter beim Lebensmittelverein Zürich. Der frauenlastige Haushalt prägte Dutti: Sein Leben lang hatte er ein offenes Ohr für Frauen und suchte oft auch ihren Rat. Er galt zudem als grosser Charmeur, der später als Migros-Chef bei Ladeneröffnungen die Kundinnen verzauberte. Zeitgenossen bezeichneten Dutti zudem als «Menschenfischer», der nicht nur Frauen von seinen Ideen überzeugen konnte.
Schon während der Schule zeigte sich Duttis Talent für Handel: Er verdiente Geld mit dem Züchten von Kaninchen, Meerschweinchen und weissen Mäusen sowie mit Porträtfotos. Das Gymnasium brach er ab und machte stattdessen eine Lehre beim Lebensmittelgrosshändler Pfister & Sigg, wo er später auch Teilhaber wurde.
1911 lernte Duttweiler im Zug Adele Bertschi kennen und verliebte sich auf der Stelle in die 18-Jährige. «Heute habe ich ein Mädchen gesehen, die will ich zur Frau», soll er zu seiner Mutter gesagt haben. Er umwarb sie, die zuerst zurückhaltend blieb, intensiv. 1913 heirateten die beiden. Ein Leben lang blieben sie zusammen, gingen gemeinsam durch dick und dünn. Nach Duttweilers Tod im Jahr 1962 war seine Gattin fast drei Jahrzehnte lang die Gralshüterin der gemeinsam verfassten 15 Thesen der Migros.
Als hochtalentierter und international bestens vernetzter Lebensmittelgrosshändler verdiente Dutti in wenigen Jahren viel Geld. Er lebte in Saus und Braus, füllte sein Haus in Rüschlikon am Zürichsee mit Kunstschätzen und antiken Möbeln. Nach dem Ersten Weltkrieg gingen die Lebensmittelpreise auf Talfahrt; Dutti verlor schlagartig sein ganzes Vermögen. Er versuchte sich als Manager einer Kaffeeplantage in Brasilien; doch dieser Neustart scheiterte.
Duttweilers grosser Wurf gelang ihm 1925: Er gründete die Migros mit der Idee, konkurrenzlos günstige Produkte zu verkaufen, indem er direkt beim Grosshandel einkaufte und den Zwischenhandel umging. Dafür liess er eine Flotte von Verkaufswagen in Zürich ausschwärmen.
Dutti setzte damals alles auf eine Karte: die Gunst der Hausfrauen. Ein Flugblatt mit dem Fahrplan der rollenden Läden begann mit den Worten: «An die Hausfrau, die rechnen muss». Jahre später sagte Duttweiler an einem Kongress in Boston: «(…) ich gebe gerne zu, dass ich den Lebensmittelhandel nur revolutionieren konnte, weil ich einen intelligenten Partner fand: die Schweizer Hausfrau.»
Duttweilers Migros expandierte rasant, sie verfügte in immer mehr Kantonen über Verkaufswagen und stationäre Läden. Der etablierte Detailhandel leistete erbitterten Widerstand gegen Preisbrecher Dutti und verschiedene Hersteller von Lebensmitteln boykottierten nun die Migros.
Auf Blockaden reagierte Dutti stets mit cleveren Schachzügen, die sein Unternehmen noch grösser und stärker machten. So gründete er eine eigene Lebensmittelindustrie. Den Grundstein dafür legte er 1928 mit der Übernahme der Alkoholfreie Weine & Konservenfabrik AG in Meilen ZH.
1933 erreichten die Migros-Konkurrenten, namentlich der mittelständische Detailhandel, dass der Bund das sogenannte Filialverbot erliess. Es blieb bis 1945 in Kraft und legte Duttis Firma Fesseln an: Sie durfte nun keine neuen Läden mehr eröffnen. Um das Verbot besser bekämpfen zu können, ging Duttweiler in die Politik – widerwillig und quasi aus Notwehr. Er gründete die Partei Landesring der Unabhängigen und wurde 1935 in den Nationalrat gewählt. Insgesamt 24 Jahre lang gehörte er zum Parlament.
Mit seiner rastlosen, ungeduldigen Art eckte Dutti im behäbigen Berner Politikbetrieb immer wieder an. Er kämpfte temperamentvoll für Gewerbefreiheit und gegen Kartelle, stiess aber auf heftige Ablehnung. Oft warf man ihm vor, nur aus Eigennutz und zu Gunsten der Migros zu politisieren.
In den 1910er-Jahren war Duttweiler noch ein konventioneller Lebensmittelgrosshändler gewesen. Als Migros-Chef stellte er den herkömmlichen Kapitalismus immer mehr in Frage. Er propagierte wortgewaltig eine neue Marktwirtschaft, die den Menschen und nicht den Profit in den Mittelpunkt stellte.
Den grossen Worten liess Dutti ebenso grosse Taten folgen: 1940 verkündete er die Umwandlung der Migros in eine Genossenschaft – damit verschenkte er sein Lebenswerk an die Bevölkerung.
1948 gründete er die Klubschule Migros, die Bildung auch für ärmere Schichten erschwinglich machte.
1957 schuf Dutti das Migros-Kulturprozent, welches direkt an den Umsatz gekoppelt ist. Dank dieser Einrichtung gibt die Migros heute jährlich rund 121 Millionen Franken für das Wohl der Allgemeinheit aus – etwa für Kultur, Bildung und Freizeitangebote.
Die Migros prägte die Konsumkultur der boomenden Wirtschaftswunder-Schweiz: Duttweiler eröffnete immer grössere und schönere Supermärkte mit immer breiteren Sortimenten. In den mageren Kriegsjahren war Einkaufen noch eine blosse Notwendigkeit gewesen, jetzt wurde es zum Erlebnis. Wenn eine neue Migros-Filiale ihre Türen öffnete, wurde daraus oft ein Massenevent mit Volksfest-Charakter.
Ob Eiscreme, Schallplatten, Staubsauger oder Kühlschränke – die Migros machte der breiten Bevölkerung vieles zugänglich, was damals topmodern und heiss begehrt war. In Duttweilers Supermärkten waren all diese Dinge stets günstiger als im Fachhandel.
Gegen Ende von Duttweilers Leben nahmen die Anfeindungen gegen ihn ab, auch die Bürgerliche Presse zollte ihm nun Respekt. Man war sich inzwischen einig, dass er viel für die Schweiz und besonders viel für die ärmeren Menschen im Land getan hatte.
Als er am 8. Juni 1962 starb, war die Anteilnahme riesig. Die Abdankung fand im Zürcher Fraumünster statt, doch das Meer der Trauernden fand darin keinen Platz. Die Messe wurde in drei weitere Kirchen übertragen. Die Zeitung «Blick» würdigte Dutti mit den Worten: «Es starb ein grosser Menschenfreund. Es starb ein Mann, der nie Bundesrat wurde, aber die Schweiz in vielen Belangen so umkrempelte, dass vielen Hören und Sehen verging. Ein grosses Herz hörte auf zu schlagen.»
Erfahre mehr über die frühen Verkaufswagen, den ersten Selbstbedienungsladen sowie über Gründer Gottlieb Duttweiler und seine Frau Adele.