
Die Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises ist ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis, doch am 22. November 1990 sind die Geladenen besonders gespannt. Der Anlass hat internationales Format: Geehrt wird der ehemalige Dissident und tschechische Staatspräsident Václav Havel, die Laudatio hält der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Havel, der als Vorkämpfer für die Menschenrechte geehrt wird, ist einer der Anführer der «Samtenen Revolution», die 1989 das Ende des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei brachte. Die Rede von Dürrenmatt ist die bissige Abrechnung eines alten Mannes mit seiner Heimat. In einer «Groteske» zeichnet er die Schweiz «als ein Gefängnis, als ein freilich ziemlich anderes, als es die Gefängnisse waren, in die Sie geworfen wurden, lieber Havel, als ein Gefängnis, wohinein sich die Schweizer geflüchtet haben.» Er kritisiert den Fichenstaat und Bankenplatz Schweiz, den Umgang der Schweizer mit Asylanten, Militärdienstverweigerern und Fremdarbeitern: «Der Friede droht gefährlicher zu werden als der Krieg ... Unsere Strassen sind Schlachtfelder, unsere Atmosphäre den Giftgasen ausgesetzt, unsere Ozeane Ölpfützen, unsere Äcker von Pestiziden verseucht, die Dritte Welt geplündert, schlimmer noch als einst das Morgenland von den Kreuzrittern … Nicht der Krieg, der Friede ist der Vater aller Dinge, der Krieg entsteht aus dem nicht bewältigten Frieden. Der Friede ist das Problem, das wir zu lösen haben.» «Vielleicht werden Sie fragen, von welcher Republik ich träume. Ich antworte Ihnen: von einer selbständigen, freien, demokratischen, wirtschaftlich prosperierenden und zugleich sozial gerechten Republik, kurz gesagt von einer menschlichen Republik …» Die Laudatio für Václav Havel ist die letzte grosse Rede von Friedrich Dürrenmatt. Er stirbt drei Wochen später, am 14. Dezember 1990, an einem Herzversagen.
Weiterlesen