Migros-Kulturprozent
Aus der Armut zurück ins Leben
Armut kann ganz plötzlich eintreten. Der Weg hinaus ist hingegen lang und beschwerlich. Elif Kaya geht ihn.
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Migros-Kulturprozent
Ab 11. Juni läuft in Einsiedeln wieder das legendäre «Welttheater». Hunderte Laien bringen das monumentale Stück auf die Bühne. Besuch in einer Gemeinde im Ausnahmezustand.
Eben noch hat sich die Sonne gezeigt, jetzt ballt sich über Einsiedeln schwarzgraues Gewölk zusammen. Doch Dave Leuthold und Klaus Annen lassen sich vom Wetterumschlag nicht ablenken. Konzentriert hantieren sie mit Hämmern, dicken Nägeln und Fräsen. Sie zimmern am Fuss der beiden Kirchtürme eine abgestufte Holzbühne, die es in sich hat: Es gibt Kammern, in denen sich Nebelmaschinen verbergen. Auf Knopfdruck kann die Bühne Flammen spucken – dafür wird hoch entzündlicher Blütenstaub der Pflanze Bärlapp in Brand gesetzt.
Die zwei Männer gehören zum Team, das hier am Fundament des «Welttheaters» arbeitet: Sie bauen den Boden, auf dem ab 11. Juni Teile des gewaltigen Stücks gezeigt werden. Leuthold (66) ist ein professioneller Bühnenbildner, der die Arbeiten auf dem Klosterplatz koordiniert. Annen (69) war früher Informatiker und ist heute pensioniert – einer von rund 500 ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen, Schauspielern und Schauspielerinnen, die das «Welttheater» überhaupt erst möglich machen.
«Ich bin kein Alteingesessener, sondern lebe erst seit acht Jahren in Einsiedeln», sagt Annen. «Doch dem Sog des Welttheaters konnte ich mich nicht entziehen. Viele Leute haben mich angefragt, ob ich nicht auch mitmachen wolle. Es ist toll, wie hier das ganze Dorf zu Team wird, wenn die Premiere näher rückt.»
Der grosse Tag, auf den alle entgegenfiebern, ist der 11. Juni: Das «Welttheater» feiert dann zum 17. Mal in seiner Geschichte eine Premiere und wird gleichzeitig hundert Jahre alt. Auf die Bühne kommt diesen Sommer eine völlig eigenständige Geschichte von Lukas Bärfuss, nicht mehr das Mysterienspiel des Barockdichters Calderón, das in Einsiedeln bis zur Jahrtausendwende aufgeführt wurde. Anders als früher gibt es bei Bärfuss nur eine einzige Hauptfigur, eine Frau namens Emanuela. Sie wird als einfaches Bauernkind geboren, kommt zu Reichtum und Macht, besteigt gar einen turmhohen Thron. Doch sie muss auf bittere Art lernen, dass auf der Welt nichts Bestand hat und dass sogar ein Königreich vergeht.
Emanuela wird in jeder Lebensphase von einer anderen Frau gespielt. Eine von ihnen ist Rita Noser (60), die als Pharma-Assistentin in einer Einsiedler Apotheke arbeitet. Heute ist sie acht Stunden lang hinter der Verkaufstheke gestanden, hat verschnupften Kunden Halsweh-Lutschtabletten und Erkältungstees empfohlen. Jetzt bereitet sie sich im Proberaum des Welttheaters, der in einem Sportzentrum untergebracht ist, auf ihren Auftritt vor. Sie vertieft sich in ein dickes Textbuch und prägt sich immer wieder ein, was sie auf der Bühne sagen wird.
Noser ist eine gestandene «Welttheater»-Veteranin – sie war schon 1981, 2000, 2007 und 2013 mit dabei. Sie spielte bei den früheren Aufführungen zum Beispiel eine einfache Verkäuferin oder die Gattin eines mächtigen Präsidenten. «Faszinierend finde ich jedes Mal die starke Verbindung, die zum Publikum entsteht», sagt die Darstellerin. «Manchmal hat es während einer Aufführung plötzlich wasserfallartig geregnet. Und obwohl die Tribüne damals noch kein Dach hatte, haben fast alle Zuschauerinnen und Zuschauer ausgeharrt. Es war, als wollten sie uns Schauspielerinnen und Schauspieler nicht im Stich lassen.»
Manchmal ist das «Welttheater» Teil einer Lebensgeschichte wie bei Noser, manchmal wird es zur Familientradition. So ist das bei der Schülerin Leonie Lang (15) und ihrer Mutter Rita (40), einer Mittelstufenlehrerin aus Einsiedeln. Die beiden sind gerade zur Kleideranprobe im Kostümatelier, das direkt an den Proberaum angrenzt: Sie ziehen sich vor einem Spiegel schwarze, zerlumpte Gewänder an, denn sie werden im Stück Obdachlose spielen; die Mutter gibt in einer Szene aber auch eine grimmige Polizistin mit Stahlhelm und Sturmhaube.
«Schon ein Grossvater und ein Urgrossvater von mir hat früher beim Welttheater mitgespielt», erzählt Leonie Lang. «Meine Mutter musste mich nicht überzeugen – für mich war völlig klar, dass ich diesmal auch dabei sein wollte.» Die Jugendliche ist fasziniert davon, wie die riesige Produktion allmählich Form annimmt. Sie freut sich auf die erste Probe auf der richtigen Bühne, die morgen Abend ansteht.
Wie überwältigend und farbig das Theaterstück am Ende sein wird, spürt man im Kostümatelier: An einem ganzen Wald aus Kleiderständern hängen unzählige Hüte, es gibt eine schier endlose Reihe aus Schuhen und Stiefeln.
Die Profi-Bühnenbildnerin Anna Maria Glaudemans (65) hat alle 350 Kostüme entworfen. Sie setzt stark auf gebrauchte Stoffe, weil sie «eine besondere Patina haben und lebendig wirken», wie die bekannte Theatermacherin findet. Glaudemans Vision würde aber keine Gestalt annehmen, wenn hier nicht 23 passionierte Schneiderinnen aus Einsiedeln abwechselnd im Einsatz wären.
Auch die Requisiteurin Désirée Knüsel (37) leistet einen unverzichtbaren Beitrag. Normalerweise leitet sie im Dorf ein Polsteratelier und bringt alte Sofas auf Vordermann. Jetzt sucht sie nach den unmöglichsten Dingen, die im Theater vorkommen sollen. Zum Requisitenfundus gehören bereits eine Reihe von Retro-Kinderwagen und ein pechschwarzer Sarg. «Ich betreibe viel Online-Recherche und suche nach geeigneten Materialien, Gegenständen und Spezialisten. Das Welttheater und auch Anna Maria haben einen grossen Fundus, wo wir vieles wieder verwenden und allenfalls abändern.»
Das ist das Tolle am «Welttheater»: Es bringt bei den Beteiligten neue Leidenschaften, Talente und Kräfte zum Vorschein. Nur so ist es möglich, dass alle gemeinsam das monumentale Stück auf die Bühne wuchten.
Es gibt nicht nur das «Welttheater». Auch diese fünf Freilicht-Produktionen sind eine Reise wert:
Der Held dieses satirischen Stücks ist Wale Wüthrich aus Hinterschnösligen. Er bildet sich viel darauf ein, ein gut situierter Schweizer zu sein, bis er merkt, dass sich manche Probleme nicht mit Geld lösen lassen.
Empfehlung: Auf dem Berner Hausberg können Kinder eine Runde in der Mini-Eisenbahn drehen, während ihre Eltern die imposanten Skulpturen von Ursi und Bernhard Luginbühl bewundern.
Vom 27. Juni bis am 31. August auf dem Gurten.
theatergurten.ch
Es geht in diesem Theater um lauter Reisende. Sie suchen nach Glück, Reichtum und ewigem Leben. Dabei geraten sie oft in Sackgassen.
Empfehlung: Im Park im Grüene lohnt sich der Besuch des Orangen Gartens. Hier kannst du die Geschichte der Migros sinnlich erleben.
Am 28. und 29. Juni im Park im Grüene in Rüschlikon.
theaterauricula.ch
Am Ufer des Bodensees wird eine antike Sage erzählt: Prometheus rebelliert gegen die Herrschaft der Götter und bringt den Menschen das Feuer.
Empfehlung: Zwischen Kreuzlingen und Schaffhausen kann man per Kursschiff eine wunderschöne Flussfahrt unternehmen.
11. Juli bis 7. August in Kreuzlingen
see-burgtheater.ch
In der Oper von Gaetano Donizetti kauft der Held einem Quacksalber eine Flasche voll magischer Flüssigkeit ab, mit der er seine Angebetete betören möchte.
Empfehlung: Die Gemäldegalerie im Schloss ist spannend. Per Knopfdruck lassen sich hier historische Gestalten zum Sprechen bringen.
2. bis 17. August auf dem Schloss Werdenberg.
liebestrank.ch
In diesem witzigen Stück geht es um den Erfinder der berühmtesten Schweizer Flüssigwürze.
Empfehlung: Im Theaterrestaurant wird Essen serviert, das selbstverständlich mit Maggi gewürzt ist.
7. bis 31. August in Illnau.
juliusmaggi.ch
Alle fünf Produktionen werden vom Migros-Kulturprozent unterstützt.
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